Mit Haut und Haaren
macht er in ihre Richtung. Gern würde er sich kurz
hinlegen.
»Und warum dachtest du, ich stehe auf Männer?«
Er sieht, wie sie rot wird, und erschrickt vor seinen eigenen Worten.
Doch einmal ausgesprochen, kann er sie nicht mehr zurücknehmen. Jetzt muss er seine
Vorlesung durchziehen. Grundlagen der Volkswirtschaft.
Mangel, Angebot und Nachfrage, ein wenig Preistheorie. »Erwarte keine Begeisterung«,
hatte Slachter gesagt.
Begeisterung erwartet er nie.
»Einfach so. Ich dachte es mir eben. Manchmal
denkt man so was.«
Oberstein versucht, sich an ihren Platz im Hörsaal zu erinnern, doch
dort ist sie ihm nie aufgefallen. Sie war eine von vielen.
»Es war echt Gwennys Idee«, beteuert sie. »Sie macht immer so komische
Sachen – darum will meine Mutter nicht, dass ich mich mit ihr abgebe. Zum Beispiel
schleppt sie mich mit in den Sexshop.«
Sein Hals fühlt sich rauh an. Beginnende Erkältung. Vorboten einer Grippe.
»Was für einen Sexshop?«
»Den in Delft. Und dann soll ich da Unterwäsche
kaufen, nur weil sie das auch tut. Dabei ist es schrecklich teuer. [629] Ich hab meiner
Mutter die Sachen gezeigt, und die meinte, die Qualität sei zum Heulen. Aber Umtauschen
ging nicht. Und ich hatte ganz schön was ausgegeben. Zwanzig Euro sind nichts in
so einem Laden.«
»Nein, zwanzig Euro sind nichts.«
Er versucht, nicht an Unterwäsche aus dem Sexshop zu denken. Er ist Hochschuldozent,
er muss sich wieder auf sein Fach konzentrieren. Doch die Zukunft erscheint ihm als eine Strafe – er muss sich zusammenreißen,
damit dieses Gefühl sich verflüchtigt.
»Ich möchte mit dir über die Liebe reden«, sagt er. »Oder meinst du,
Ökonomen würden sich nicht dafür interessieren?«
»Keine Ahnung. Ich hab nie so darüber nachgedacht. Über Liebe und Ökonomie.
Eigentlich denke ich nie über Ökonomie nach.«
Ein Pferd wiehert.
Wieder reibt er sich übers Gesicht. Es klebt immer schlimmer.
»Lieke, wenn du dich jemandem hingibst, und das hast du wahrscheinlich
schon bei verschiedenen Männern getan, was für eine Gegenleistung erwartest du dann?
Wie viel kostet dein Körper? Dein schöner Körper?«
Sie läuft nicht weg. Sie bleibt stehen, ihren
Ladyshave in der Hand.
»Wie meinen Sie das?«
Sie ist immer noch ein wenig rot.
»Wenn du es mit einem Jungen treibst, was für eine Gegenleistung erwartest
du? Was ist der Deal? Was wird getauscht?«
[630] Er sieht, wie sie schluckt, wie sie nachdenkt. Wie in einer mündlichen
Prüfung.
»Liebe«, sagt sie. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig
begreife.«
Er muss an seine erste Vorlesung denken. Über hundert Studenten im Hörsaal.
»Nur Liebe? Nichts weiter? Nur Liebe?«
»Manchmal auch nicht. Kommt darauf an, mit wem. Manchmal auch nur ein
paar schöne Stunden. Schön und aufregend. Manchmal ist das genug.«
Sie lacht wieder, doch anders als eben. Nicht mehr wie über einen Komiker.
Auch nicht von oben herab. Eher freundlich, entgegenkommend.
Er merkt, wie er sich langsam beruhigt. Oberstein ist kein verletzlicher
Mann, er ist ein bedeutender Ökonom, allzeit zur Wissensvermittlung bereit, selbst
hier, in einem Pferdestall.
»Okay, du gibst also deinen Körper im Tausch gegen Liebe oder ein paar
schöne, aufregende Stunden. Seh ich das richtig? Hast du deinen Körper auch schon
mal für was anderes weggegeben?«
Sie schaut betreten zu Boden.
»Ich weiß nicht, ob ich das sagen soll, Meneer
Oberstein.«
»Hör mal zu, Lieke, dieses Geschäft ist vorteilhaft für uns beide. Wie es sich für ökonomische Transaktionen
gehört, was würden sie sonst für einen Sinn machen? Du hast etwas, was ich will.
Und ich habe etwas, was du willst.«
»Und was soll das sein?« Ihre Stimme klingt anders als eben.
[631] »Liebe. Ein schönes, aufregendes Erlebnis.«
Ihr Ladyshave wandert von der einen Hand in die andere.
Jetzt sagt Lieke nichts mehr.
»Du dachtest also, ich stehe auf Männer?
Ich wäre schwul?«
»Nein. Na ja, irgendwie schon. Ja.«
Er hört den Regen auf das Dach trommeln. Er stellt sich vor, wie er draußen
nassgeregnet über die Wiesen rennt, er weiß nicht, warum, aber er rennt. In einem
Graben liegt der junge Don Quijote, doch weder der Regen noch der Graben können
ihm etwas anhaben. Don Quijote lacht ihn aus.
»Nun gut, Menschenkenntnis ist eine Frage der Reife. Kehren wir zu unserem
Thema zurück. Wir Ökonomen entwerfen Modelle der Realität. Manchmal gehorcht die
Wirklichkeit unserem Modell nicht, dann
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