Mit Haut und Haaren
müssen wir unsere Vorstellungen korrigieren.
Du gibst deinen Körper also im Tausch gegen Liebe und ein paar schöne, aufregende
Stunden her. Wofür noch? Welche Bezahlung ist außerdem möglich? Was ist ein akzeptables
Tauschmittel?«
Er sieht, wie sie tief Luft holt.
In Momenten wie diesem ist er am besten. Die sokratische Methode. Immer
weiterfragen.
»Ich war mal in einem Club, und ich war ein bisschen betrunken. Ich wollte
nicht nach Hause, aber ich hatte kein Geld. Da hab ich dem Barmann meine Brüste
gezeigt für was zu trinken.«
Er lehnt sich wieder gegen die Tür.
»Warum sagst du ›Brüste‹?«
[632] »So heißt das doch?«, sagt sie. »Ich bin wirklich nicht stolz darauf.
Aber schämen tue ich mich auch nicht.«
»Wenn meine Studenten eine Hausarbeit schreiben, versuche ich immer,
ihnen zu erklären – manchmal vergeblich –, dass es in der Ökonomie nicht nur auf
mathematische Formeln ankommt. Die Sprache spielt auch eine Rolle. Die ökonomische
Realität besteht auch aus Wörtern. Mit dem Wort ›Titten‹ könnte man denselben Vorgang
erzählen. Die Fakten bleiben dieselben, die Geschichte wird eine andere. Wir wollen
die Geschichte anders erzählen und damit die ökonomische Aussage ändern. Erzähl
deine Geschichte noch mal, jetzt mit dem anderen Ausdruck.«
Sie haben also gewettet. Und er war das Objekt dieser Wette. Es war ein
Spaß, um während seiner Vorlesungen die Zeit totzuschlagen. Seine SMS sind durch den Hörsaal gewandert, auf Gwendolynes Handy.
Der Mann, der sich als doch nicht schwul entpuppt hatte, war auch noch witzig. Der
Vertreter von Mevrouw Vermaes war besser, als sie zu hoffen
gewagt hatten.
So angespannt ist er jetzt wie bei der Arbeit an seiner Studie. Ort und
Zeit existieren nicht mehr. Nur noch seine Forschung.
Auch Wissensvermittlung erfordert Konzentration. Man nimmt jemanden bei
der Hand und führt ihn Schritt um Schritt eine Kette von Schlussfolgerungen entlang,
die man selbst inzwischen ohne nachzudenken durchläuft.
Lieke ist immer noch rot im Gesicht, als hätte sie Fieber.
»Ich nehme die Lehrverpflichtung sehr ernst«,
sagt Oberstein langsam und mit gewissem Nachdruck, wie bei einem Diktat. »Dieselbe
Geschichte noch mal, nur jetzt mit [633] dem anderen Wort. Wirtschaftswissenschaft ist auch Rhetorik.
Wir bestehen aus Rhetorik. Rhetorik ist das Wesen des Menschen.«
Lieke holt tief Luft. »Ich war mal in einem
Club. Ich hatte kein Geld, und da hab ich dem Barmann meine Titten gezeigt. Dafür
hat er mir umsonst was zu trinken gegeben.«
»Spürst du den Unterschied? Hörst du es? Dieselben Fakten, eine andere
Geschichte. Darum dürfen Ökonomen die Sprache nicht vernachlässigen, die wirtschaftliche Realität besteht nicht nur aus Produkten und Dienstleistungen,
Finanzströmen, Produktionsmitteln und, und, und, sondern auch aus Sprache. Wie ist
das Geschäft vor sich gegangen? Hast du es ihm angeboten?
Oder hat der Barmann gesagt: ›Wenn du mir deine Titten zeigst, geb ich dir deinen
Rosé umsonst‹?«
»Ich weiß es nicht mehr. Tut mir leid. Ich glaub, es fing an als ein Spaß.«
»Viele Dinge beginnen als ein Spaß.«
Er sieht, wie das Pferd hinter ihr seinen Kopf durch das Gitter der Box
steckt.
»Und was ist passiert, als du ihm deine Titten
gezeigt hattest?«
»Nichts.«
»Kannst du deine Titten beschreiben?«
Der Hochmut derer, die den Tod nur vom Hörensagen kennen, darunter leidet
dieser junge Don Quijote.
Er nicht. Er kennt den Tod, er ist ihm ganz nah.
»Wollen Sie sie sehen?«
»Was soll ich sehen wollen?«
Sie rührt sich immer noch nicht.
[634] »Meine Titten.«
»Nein, die will ich nicht sehen. Ich will, dass du sie beschreibst. Das
musst du lernen. Optische Darbietungen bringen uns in der Wissenschaft nicht weiter.«
»Wollen Sie meine Körbchengröße wissen?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, ich frage auch nicht nach Größen. Ich will
keine Formeln. Meinst du, Adam Smith hätte sein dünnes Œuvre mit Formeln vollgestopft? Um Worte geht es, Beschreibungen, Bemerkungen, Gedanken,
Rhetorik. Das zählt, wenn du eine Hausarbeit schreibst. Du stellst ein Modell für
ein kleines Stück Wirklichkeit auf und kommentierst andere, die den gleichen Wirklichkeitsausschnitt
untersucht haben. Bildliche Darstellung bringt dabei nichts. Wirtschaftswissenschaft ist kein Comic.
Beschreib deine Titten.«
Sie zögert und schaut sich hilfesuchend um, ob ihr jemand souffliert: »So sehen deine Titten aus, das ist die exakte
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