Mit Haut und Haaren
hat seine Boardingcard fallen lassen.
Er bückt sich.
»Hast du gut geschlafen?«, fragt sie.
»Es geht«, antwortet er. »Und du?«
Nur kein Drama. Das ist immer sein Grundsatz gewesen, schon seit er an
der Universität ist, vielleicht sogar eher. Die Leute mochten es theatralisch, ohne
zu wissen, worauf das hinauslief, ohne die eigene Tragik dabei zu erkennen. Er würde
sich vorsehen.
»Du klingst so distanziert.«
»Ich stehe in einem Duty-free-Shop.«
[100] Doch trotz seiner guten Vorsätze, seiner Gelassenheit, steht ihm nun
ein anderes Bild von Violet vor Augen: Er sieht, wie sie von einem fremden Mann
gevögelt wird, der von nichts anderem besessen ist, keinen anderen Ehrgeiz kennt
als sein sexuelles Vergnügen. Einem Mann, für den Freiheit die Freiheit des Fleisches
ist. Er muss an Violets SMS denken. Seltsamerweise
erscheint ihm die jetzt wirklich wichtig. Als stünde darin etwas zwischen den Zeilen,
was er bisher übersehen hat. Kindisch natürlich. Und albern. »Schlaf gut, Liebling,
xxx.« Die Worte scheinen ihre Bedeutung geändert zu haben. Sie bedeuten nicht mehr
bloß »Schlaf gut«. Sie haben etwas Höhnisches bekommen: »Schlaf du nur schön weiter!«
»Ist es dir peinlich?«, will Violet wissen.
»Was?«
»Dass die Leute dich hören können. Du schämst dich für die albernsten
Dinge.«
»Nein, zufällig schäme ich mich nicht. Hier spricht niemand Niederländisch.
Aber um mich herum sind überall Leute. Es ist Hochbetrieb, und ich kann es nicht
leiden, die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich möchte nicht brüllen müssen am
Telefon.«
Er ist in der Kassenschlange gelandet, dreht sich um, als hätte er etwas
vergessen, geht in Richtung Whisky-Regal. Beim Alkohol drängeln sich weniger Leute.
»Meinst du, wir sollten eine Auszeit nehmen?«, fragt sie.
»Auszeit? Wovon?«
»Voneinander.«
»Wieso?«, sagt er. »Warum jetzt? Warum die Eile? Eine Auszeit können
wir immer noch nehmen.«
[101] »Manchmal bist du irgendwie so weit weg, ich kann dich nicht spüren.
Dann kommst du mir vor wie ein Gespenst.«
»Ein Gespenst? Bloß weil wir nicht in derselben
Stadt wohnen?«
»Du bist so ungreifbar, ich kann dich nicht fassen, wie ein Gespenst.«
Er geht langsam am Whisky-Regal entlang, zum Wodka, zum Gin und wieder
zurück.
»Ich möchte dich was fragen«, sagt er. »Eine etwas komische Frage vielleicht.
Aber an dem Abend …«
»Welchem Abend?«
»Dem Abend, als du mit diesem Mann im Bett warst.«
»Ja. Müssen wir immer noch darüber reden?«
»Na ja, immer noch … An dem Abend hast du mir eine SMS geschickt.«
»Ja.«
»Lagt ihr da schon zusammen im Bett?«
Roland sieht Lea in den Duty-free-Shop hereinkommen. Er winkt ihr, aber
sie scheint ihn nicht zu bemerken.
»Nein, natürlich nicht. Das wär doch ein bisschen schizophren, oder?«
»Schizophren?«
Schizophren. Was ist das eigentlich? Er hat noch nie darüber nachgedacht.
»Du warst so ungreifbar, so weit weg. Darum ist es geschehen. Manchmal
spüre ich dich, aber dann wieder tagelang nicht.«
Er winkt Lea noch einmal. Jetzt sieht sie ihn. Sie kommt auf ihn zu.
[102] »Wie ist es eigentlich passiert?«
»Was meinst du?«
»Wie es passiert ist. Wie habt ihr euch kennengelernt? Und alles andere.«
»Auf einer Party. Warum willst du das wissen?«
Lea zeigt auf den Doppeldeckerbus. Sie schüttelt den Kopf.
»Weil ich dich liebe. Darum«, antwortet Roland.
Der Frage, ob das wirklich so ist, müsste er einmal nachgehen. Kann Wissensdurst
aus Liebe entstehen? Oder ist Liebe vielmehr ein Zustand, in dem man sich ungestört
seiner Phantasie hingibt?
»Ich sage, dass ich dich nicht spüre, und du fragst: ›Wie ist es passiert?‹
Das ist genau, was ich meine.«
Er streckt den Daumen in die Höhe zum Zeichen, dass er den Bus ein hervorragendes
Geschenk für Leas Sohn findet.
»Was ist auf der Party passiert? Das ist doch keine abwegige Frage. Ich
will es wissen. Ich war nicht dabei, und ich wüsste gern mehr.«
Lea schüttelt den Kopf. Sie zieht sanft an
dem Bus, den er in der Hand hält.
»Wie’s auf Partys eben so zugeht. Es wurde getanzt, geredet, getrunken.
Ich bin in der Firma, auf der Toilette. Muss das wirklich jetzt sein? Ist dir das
nicht peinlich?«
»Und ich, ich stehe in einem Duty-free-Shop. Ob das peinlich ist, ist
mir egal. Und dann? Nach dem Trinken, dem Tanzen und Reden?«
Er ist vielleicht kein Spezialist für Spielzeugautos, aber er ist ein
Mann und weiß daher: Der Bus ist ein
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