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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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dafür heutzutage noch Gründe? Seine Mutter sagt, er sei bockig. Manchmal sind sie wie Hund und Katze, aber eigentlich sind
sie verrückt nacheinander. Ich weiß es nicht. So oft sehe
ich ihn nicht. Unser Kontakt läuft per Telefon. Manchmal
machen wir eine Videokonferenz.«
    »Eine Videokonferenz mit einem Kind?«
    »Wir ichatten. Dann kann er mich sehen und hören, und ich ihn. Aber das
Bild scheint ihn nervös zu machen. Er spielt lieber am Computer. So ist das nun
mal. Ich nehme es nicht persönlich. Er kann wählen zwischen mir – seinem Vater –
und seinem Nintendo. Oft entscheidet er sich für sein
Nintendo.«
    Offenbar redet er über alles genau so: sachlich,
informiert, darauf bedacht, keine falschen Informationen zu geben. Wenn sich in
seiner Stimme oder Wortwahl überhaupt ein Gefühl verrät, dann in der Zurückhaltung,
mit der er formuliert. Als wüsste er trotz allem, dass Worte verletzen können.
    »Vielleicht liegt das an seinem Vater«, sagt Lea.
    »Oder an dem Nintendo.«
    [97]  »Meine Kinder sind völlig fixiert auf mich.
Nicht nur mein Sohn. Auch meine Tochter, seltsamerweise. Am liebsten sitzen sie
auf mir.«
    »Auf dir? Sie sitzen auf dir?«
    »Ja, sie hängen an mir. Buchstäblich. Sie sitzen auf mir, klettern auf
mich, zu Hause komme ich nicht zum Arbeiten. – Ach, das hier bringt nichts: Stell
dich in die Schlange für EU -Bürger. Dann kannst du
ein Geschenk für meinen Sohn kaufen. Ich geb dir das Geld. Oder verlange ich jetzt
was zu Intimes von dir?«
    »Ein Spielzeugauto ist nicht intim. Ich tu dir gern den Gefallen. – Aber
du bist doch kein Baum, du bist ihre Mutter. Ich würde mir das verbitten, wenn ich
du wäre. Ich würde sagen: Auf mir wird nicht geklettert.«
    Sie weiß nicht, ob er es ernst meint. Kinder wollen sich binden. Man
muss ihnen die Möglichkeit geben, der Mutter nahe zu sein.
    »Was soll ich kaufen?«, fragt er.
    »Ein Spielzeugauto«, sagt Lea. »Das hast du doch vorgeschlagen? Ein hübsches,
typisch deutsches Auto. Mein Sohn spielt gern mit Autos, aber er kann nicht gut
allein sein.«
    »Ein schönes Auto«, wiederholt Roland. »Und
deine Tochter?«
    »Die hat das weniger. Die kann besser allein sein. Ich denke, es ist
eine Phase. – Riechst du das auch?«
    »Was?«
    »An mir. Riechst du was? Was Seltsames, meine ich?«, fragt Lea. »Ich
hab vergessen, mein Deodorant aufzutragen.«
    [98]  »Nein, überhaupt nichts, nichts Unangenehmes.« Oberstein stellt sich
in die Schlange für EU -Bürger.
    Er lächelt zu Lea hinüber.
    Ein dicker Mann stößt von hinten gegen ihn.
    »Und nicht zu teuer«, ruft Lea noch.
    9
    In einer idealen Welt trifft der
informierte Kunde eine objektive Entscheidung. Je informierter der Kunde, desto
besser die Entscheidung. Aber in Wirklichkeit weiß der Kunde natürlich nie alles.
Ein Kunde ist jemand, der verführt werden will, und es ist schwer zu sagen, wo die
Verführung aufhört und die Irreführung beginnt.
    Roland Oberstein steht mit einem Doppeldeckerbus im Duty-free-Shop. Von
der Krise ist hier wenig zu spüren, die Leute rempeln ihn an, und sie drängeln.
Ein Doppeldecker ist vielleicht ein etwas merkwürdiges Reisemitbringsel aus Deutschland.
So was bringt man eher aus London mit. In Frankfurt fahren keine Doppeldeckerbusse,
aber in Berlin schon, und die anderen Autos sind so klein, so armselig; da hat man
mit einem Doppeldeckerbus doch wenigstens was Substantielles.
    Das Handy in seiner Hosentasche vibriert. Ohne den Bus loszulassen, holt
er es hervor und macht einen Schritt beiseite, denn eine Frau mit drei Einkaufstüten
möchte ebenfalls ans Regal.
    [99]  Es ist Violet. Eigentlich will er nicht rangehen und ihr nachher eine SMS schicken, dass er schon im Flugzeug sitzt und
sie anruft, sobald er gelandet ist. Doch seine Neugier
siegt.
    »Hallo, Schatz«, sagt er. »Wo bist du? Habt ihr in der Firma schon Mittagspause?«
    »Ich sitze auf der Toilette«, sagt sie. »Ich
hab kurz geschlafen.«
    Immer noch steht er in der Spielzeugabteilung, den Doppeldeckerbus in
der Hand. Er tut so, als interessiere er sich für einen lebensgroßen Pinguin etwas
weiter links. So macht er der Frau mit den drei Einkaufstüten diskret Platz. »Wenn
ich du wäre, wäre ich auch müde, aber seit wann schläfst du auf der Toilette.«
    »Das mache ich öfter«, sagt sie. »Hab ich
dir doch schon mal erzählt.«
    »Vergessen.«
    Langsam geht er Richtung Kasse. Jemand tippt ihm auf die Schulter. Er
dreht sich um, eine Dame zeigt auf den Boden. Er

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