Mit Haut und Haaren
man auch nicht
verstehen.
Freundinnen sagen ab und an zu Sylvie: »Was hast du bei ihm noch verloren?«
Das fragt sie sich selbst auch immer wieder. Dann nimmt sie sich vor,
an einem seiner guten Tage mit ihm Schluss zu machen. An solch einem Tag möchte
sie zu ihm sagen: »So kann das nicht weitergehen. Wir müssen uns trennen. Das bringt
keinem mehr etwas.« Doch an den guten Tagen ist es schön mit Lysander. Friedlich,
geradezu kuschlig, fast heimelig, angenehm. Wie jedermann es sich wünscht. Rundum
gemütlich. Die Kunst besteht natürlich darin, die Bedürfnisse, die über die reine
Gemütlichkeit hinausgehen, auch noch zu befriedigen.
Jonathan hat sich an Lysander gewöhnt, manchmal glaubt sie sogar, er
ist regelrecht in ihn vernarrt.
[110] An solchen Tagen, den guten, kommt ihr Entschluss ins Wanken. Sie
lässt die Gelegenheit verstreichen, und ehe sie sich’s versieht, brechen die schlechten
Tage wieder an. Dann mit ihm Schluss zu machen, bringt sie nicht fertig. Damit er
sich nicht womöglich was antut. Jemandem, der schon seit Tagen nicht mehr spricht,
der nicht aus dem Bett kommt und in einem halbdunklen Zimmer an die Decke starrt,
dem ist alles zuzutrauen. Briefe der Krankenkasse, vom Arbeitsamt, Bewerbungsaufforderungen,
ihm ist alles egal, er starrt an die Decke. Das Apartment, das er bewohnt, gehört
seinem Vater, Miete braucht er nicht zu bezahlen. Da starrt es sich ein gutes Stück
sorgloser.
Sylvie öffnet die Tür. Sie hebt Reklame und
Zeitungen auf. Während sie die Treppe hochgeht, fällt ihr Blick auf einen Zettel,
auf dem in kindlicher Handschrift steht: »Wer hat unsere
Katze Mimi gesehen?« Darunter ein Foto. Eine schlechte Kopie, unscharf, schwarzweiß.
Sie öffnet die Wohnungstür.
Schon am ersten Abend hat er ihr die Hausschlüssel gegeben. »Nimm sie
ruhig mit«, sagte er. »Vielleicht möchtest du noch mal wiederkommen.«
Sie hatte das rührend gefunden. Auch witzig. Ganz anders als Roland.
Es ist das andere, das einen anzieht, das Unbekannte, das Fremde. Bis
das Unbekannte bekannt wird. Obwohl die Routine ihr nie viel ausgemacht hat. Der
Alltag ist ihr aufregend genug.
Sie zögert einen Moment, dann legt sie den Suchaufruf nach Mimi auf den
Esstisch. Sie nimmt eine Vase mit welken Blumen vom Tisch und bringt sie in die
Küche.
[111] Nirgends ein Laut. Niemand ruft: »Liebling,
bist du’s?« Oder »Hallo, mein Schatz.« Doch sie weiß, dass er da ist.
Sein Schweigen verrät ihn.
Sie wirft die welken Blumen in den Mülleimer,
er ist fast voll. Wenn sie heute Abend hier kocht, wird sie ihn leeren.
Sie schaut auf die Uhr. Sie hat nicht viel Zeit, aber für einen kurzen
Abwasch müsste es noch reichen. Irgendjemand muss die Wohnung ja sauber halten.
Sylvie ist noch nicht im Schlafzimmer gewesen, wo Lysander die Decke
anstarrt. Er schläft bestimmt nicht. Wie viele Stunden
pro Tag kann ein Mensch schlafen? Sie braucht nicht nachzusehen, sie weiß, dass
er dort liegt und vor sich hin starrt. Sie dreht den Hahn auf und wartet, bis das
Wasser heiß wird. Abwaschen mit lauwarmem Wasser bringt nichts. Es ist ein alter
Durchlauferhitzer, es dauert ein Weilchen. Sie hat ihre Jacke angelassen.
Während sie einen Teller mit Reisresten unter den Wasserhahn hält, überdenkt
sie ihr Leben. Sie hat ein Kind, einen Freund, der manchmal wochenlang schweigt,
der Vater des Kindes ist am anderen Ende der Welt, sie hat Arbeit. Es könnte ihr
schlechter gehen. Alle sind gesund. Selbst der schweigende Freund ist im Grunde
gesund, bis auf die Depressionen, aber daran stirbt man nicht gleich.
Als sie mit dem Abwasch fertig ist, holt sie einen Strauß frischer Rosen
aus der Einkaufstüte. Sie schneidet die Blumen an und spült eine Vase aus. So ein
Strauß Rosen ist kein Antidepressivum, doch immerhin. Ein erster Schritt, etwas
mehr Farbe im Leben.
Nachdem sie den Rosenstrauß auf den Esstisch gestellt hat, neben ein
paar Bankauszüge und die Vermisstmeldung, [112] schaut sie sich um, ob sie auch nichts
vergessen hat. Sie könnte jetzt genauso gut gehen, aber weil sie vorhat, heute Abend
hier zu kochen, und es doch merkwürdig wäre, nicht zumindest den Versuch unternommen
zu haben, mit Lysander zu sprechen, betritt sie das Schlafzimmer.
Die Vorhänge sind zugezogen. Es riecht nach Pfadfinderlager,
Kinderferienheim, Schlafsälen aus längst vergangenen Zeiten.
Als Bett liegt eine Matratze auf dem Boden.
Eigentlich bin ich zu alt für so was, denkt sie. Wie lange kann man wie
ein Student
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