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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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streckt den Zeigefinger in die Höhe zum
Zeichen, dass das Gespräch gleich zu Ende ist. Nur noch eine Minute.
    »Und dann? Wie ging es dann weiter?«
    Lea geht in die Spielzeugabteilung zurück.
    »Und dann? Dann sagte er: ›Wollen wir zusammen nach Hause gehen?‹ – Ist
das schon irgendwie bei dir angekommen: Ich bin in der Firma, auf der Toilette.
Ich muss zurück an die Arbeit. Das ist kein Ort hier für so ein Gespräch, ich weiß
nicht mal, ob ich es überhaupt führen will. Manche Dinge darf man nicht teilen.«
    Er läuft aufgebracht hin und her. Jahrelang
glaubte er zu wissen, wer Violet ist, doch jetzt ist sie auf einmal nicht mehr wiederzuerkennen.
Keine Fremde, aber doch ziemlich anders, als er gedacht hatte. Man nennt so etwas
für gewöhnlich »eine unangenehme Überraschung«, er aber empfindet
Genugtuung, weil er einen Systemfehler entdeckt hat, in seinem eigenen System. Jetzt,
wo der Fehler entdeckt ist, kann er ihn beheben.
    Es ist eine getrübte Freude, das muss er zugeben. Weil ihm klar wird,
dass ihre sogenannte Provokation dem Wunsch entspringt, ihm weh zu tun, ihn zu schwächen.
    [107]  Er selbst will niemandem weh tun, und wenn es doch mal passiert –
er will das nicht leugnen –, ist es höchstens ein unbeabsichtigter Nebeneffekt. Doch hier war der Schmerz kein Nebeneffekt, sondern das Ziel. Das erschreckt und beunruhigt ihn,
fasziniert ihn aber auch. Es weckt sein Interesse.
    »Liebling, wir reden ein andermal weiter. Mein Flugzeug geht gleich.
Wir vertagen uns.«
    Ein Riesengedränge. Lea bahnt sich nur mit Mühe einen Weg zum Regal mit
den Doppeldeckerbussen.
    »Hast du noch Hoffnung?«,
fragt Violet. »Hoffnung für uns?«
    Lea dreht sich um, schaut ihn an. Als erwarte sie Hilfe.
    »Hoffnungslos bin ich selten. Ich weiß nicht,
ob das was ist, worauf man stolz sein sollte. Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Ich rufe dich an, wenn ich gelandet bin.«
    »Okay.«
    »Kuss.«
    »Kuss zurück.«
    Er steckt das Handy ein, während er zu den Spielzeugen geht. Lea steht
dort mit dem kleinen Taxi in der Hand. Offenbar hat sie
sich immer noch nicht entschieden.
    »Der Doppeldecker wäre wirklich das schönere Geschenk«, sagt Roland.
    »Aber er hat doch schon einen.«
    »Dann schenkst du ihm eben noch einen.«
    »Einer ist genug. Man darf Kinder nicht zu sehr verwöhnen.«
    Sie geht mit dem Taxi zur Kasse.
    Ein paar Sekunden bleibt er bei den Spielsachen stehen, [108]  das Wort »Hoffnung« geht ihm nicht aus dem Kopf, er kaut darauf herum wie
auf einem Stück faserigem Fleisch, das ihm zwischen den Zähnen hängengeblieben ist.
Dann folgt er Lea.
    10
    Lysander ist depressiv. Schon seit langem. Wer ihn kennt, kann
sich nicht erinnern, dass es irgendwann einmal anders war. Er scheint es auch selbst
kaum noch zu können.
    Depressivsein ist für ihn tagesfüllend. Obwohl man bisweilen wochenlang
nichts davon bemerkt. Dann nimmt er am sozialen Leben teil, steht zur selben Zeit
auf wie andere Leute, geht aus dem Haus, kauft ein und
ist ausgesprochen gewinnend, zuvorkommend, ja, regelrecht charmant.
    Sylvie muss ihm in einem guten Moment begegnet sein. Natürlich, ohne
es zu ahnen. Man lernt niemanden kennen und denkt: Ob er heute bloß einen guten
Tag hat? Oder: Wie führt er sich wohl auf, wenn er das Leben nicht mehr aushält?
Man nimmt die Leute so, wie sie sind, und denkt, sie blieben immer gleich.
    Sylvie steht mit der Einkaufstüte vor dem Haus in Amsterdam Oud-West,
in dem Lysander ein Zweizimmer-Apartment bewohnt. Seit vierundzwanzig Stunden ist
er nicht mehr ans Telefon gegangen, ein sicheres Zeichen, dass er wieder Depressionen
hat. Das Abbrechen aller Kommunikation gehört zum Krankheitsbild, zumindest zu seinem. [109]  Wenn »Krankheitsbild« das richtige Wort ist; es klingt so beladen, so definitiv, sie benutzt es nicht gern. Worte beeinflussen die Wirklichkeit, darum muss man aufpassen, was man
sagt.
    Wegen seiner Depressionen hat er schon seine Arbeit verloren, in einem
Labor, wo er nach Dingen forschte, die die Menschheit hätten voranbringen sollen.
Doch wenn Lysander seine Depressionen hat, kann die Menschheit ihm gestohlen bleiben,
und er kommt nicht aus dem Bett.
    Die Laborleitung hat eine Weile zugesehen, dann suchten sie sich einen
anderen. Lysanders Probevertrag wurde nicht verlängert, was ihn noch depressiver
machte als eh schon.
    Die meisten Leute können das nicht verstehen, er kommt aus guter Familie,
ist hochintelligent und sieht ansprechend aus, doch Depressionen kann

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