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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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Entbindung, die für
sie ein Alptraum gewesen war, hatte sie überlebt, er wiederum hatte für alles bezahlt.
Im vorliegenden Fall aber war kein Kompromiss möglich, wie sollte der auch aussehen?
Dass er nur die halbe Geschichte der Spekulationsblasen schrieb? Mitten im achtzehnten
Jahrhundert einfach aufhörte? Er [145]  musste gehen. Und das tat er. Doch der Gedanke,
versagt zu haben, ließ ihn nicht los.
    Am Ende des Flurs hatte der Professor, mit dem er all die Jahre in bewaffnetem Frieden lebte, sein Büro. Ihr Verhältnis war von gegenseitiger
Verachtung geprägt, erst nur für die Veröffentlichungen
des anderen, später auch für dessen Person. Wo hört die Arbeit auf und fängt das
Persönliche an? Schwierig zu sagen. Sie brachten es jedenfalls nicht zur Sprache.
Von den pädagogischen Fähigkeiten des anderen hielten sie ebenfalls wenig, doch
auch dieses Thema wurde diskret gemieden.
    Am liebsten sprachen sie über die japanische Wirtschaftspolitik der neunziger Jahre und über die Niederländische
Bahn. Beides unerschöpfliche Themen.
    Vor zwei Jahren war Oberstein von einem Kurzurlaub an seine Arbeit zurückgekehrt.
Er wollte die Tür zu seinem Büro aufschließen, doch ohne Erfolg. Erst da sah er,
dass sein Schreibtisch samt Büchern und Akten auf dem Flur stand. Eine Sekretärin
kam hastig zu ihm. »Der Professor hat Ihre Sachen auf den Flur stellen lassen«,
flüsterte sie. »Aber wir finden
schon ein anderes Plätzchen für Sie.«
    Von einem Kollegen erfuhr er, warum sein Schreibtisch hier auf dem Flur
stand: »Er hat allen erzählt, dass deine wissenschaftlichen
Methoden ein Witz sind.«
    Der Professor hatte gehofft, dass Oberstein
seine Kündigung einreichen würde, doch das tat er nicht, zwei Monate arbeitete er
auf dem Flur, bis er dort ein so großes Hindernis wurde, dass die Fakultät ihm einen
winzigen Raum frei machte, in dem zuvor Putzmittel, Toner und Ähnliches gestanden
hatten.
    [146]  Und während er an die Tür des Professors klopfte, wieder an seine
Frau denkend, überkam ihn unerwartete Wehmut – Wehmut, ganz sicher kein Schuldgefühl,
eine unbestimmte Melancholie, die vielleicht nicht nur mit seiner Frau zu tun hatte.
Dass er den Mann, der ihm das Leben schwergemacht hatte und den er innerhalb der
subtilen Grenzen akademischer Sitten bis aufs Messer bekämpft
hatte, jetzt nie mehr sehen würde, stimmte ihn ebenso wehmütig wie der Abschied
von ihr. Er war im Begriff, sich zu befreien, doch jetzt,
vor der Tür des Professors, wurde er den Eindruck nicht los, dass diese Befreiung
zugleich ein Verlust war.
    Vielleicht stand er nicht über den Parteien, wie er immer gedacht hatte,
sondern vielmehr daneben, und kurz war ihm, als sollte all das, was er als Ehrgeiz
in sich brennen spürte, nur überdecken, dass er zu keiner Partei richtig gehörte.
    Einmal hatte er seinen Studenten den Auftrag gegeben, in einem Vortrag
den Wert Gottes in Geld auszudrücken. Und dazu noch einen Essay zu schreiben, der
auf die Aussage hinauslaufen sollte, dass etwas, dessen Wert sich nicht in Geld
ausdrücken ließ, nicht existierte.
    Es hatte zwei Beschwerden gegeben.
    Dieses sentimentale Getue verursachte ihm Alpträume. Er streifte die
Wehmut resolut ab, wie einen Pullover, der einem bei näherem Hinsehen doch nicht
recht steht.
    Oberstein klopfte an die Tür, und während er das Büro des Mannes betrat,
dessen wissenschaftliche Auffassungen er für lächerlich
und überholt hielt, wurde ihm klar, dass sein brennender Ehrgeiz keine Kompensation
für einen Mangel, keine schäbige Krücke war, sondern ein unabhängiges [147]  Streben:
Seine Leidenschaft galt der Geschichte der Spekulationsblasen
und – in geringerem Maße, denn das war nun mal eher sein Hobby – dem Völkermord,
oder besser, der wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive darauf. Man sagt, das Leben sei teuer.
Dem Wirtschaftswissenschaftler
jedoch ist bewusst, dass auch der Tod etwas kostet. »Bald sind wir voneinander erlöst«,
hatte er zu dem Professor gesagt. Das schien ihm ein guter Eröffnungssatz für ein fruchtbares und kultiviertes Gespräch zu
sein.
    Im Zug von Newark nach Washington D.C. muss er einmal mehr an dieses Gespräch denken.
    Heute Abend in Fairfax will er noch arbeiten. Wenn er irgendwas hasst,
sind es Leute, die seine Arbeitsplanung durchkreuzen – manchmal sogar die Kranken
und Sterbenden, doch dann ruft er sich immer zur Ordnung
und macht sich klar, dass sie ein Recht auf Mitgefühl haben. Dass sie nicht

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