Mit Haut und Haaren
wichtigere Dinge im Leben gibt«, hatte
sie geantwortet. Doch irgendetwas hatte sie fasziniert: die Mischung von freundlicher
Herablassung, Verlegenheit und Liebenswürdigkeit.
Später am Abend hatte sie ihrem Freund Wein übers Hemd geschüttet. Nicht
mit Absicht natürlich, aus Ungestüm und Ausgelassenheit. Roland hatte danebengestanden.
Aus unerklärlichen Gründen war ihr Freund total explodiert, und Oberstein hatte
zu ihm gesagt: »Früher hatte ich das auch: Wenn ich irgendwo einen Fleck hatte,
dachte ich, die Leute würden nichts andres mehr sehen als den Fleck. Bis ich irgendwann
merkte, dass die Leute viel zu viel mit ihren eigenen Flecken zu tun haben. – Ich
muss jetzt gehen. Nochmals herzlichen Glückwunsch zu deinem Diplom und alles Gute
im weiteren Leben.« Und dann, an Violet gewandt: »Vielen Dank für die Einladung.«
Einen freundlichen, aber auch etwas unterkühlten Eindruck hatte er auf
sie gemacht.
Sie hatte ihn zum Ausgang begleitet. Ihr Freund war auf sein Zimmer gegangen,
um sich ein anderes Hemd anzuziehen.
Im Treppenhaus hatte Roland ihr zum zweiten Mal die Hand gegeben. »Wenn
dir irgendwann mal jemand was über Ökonomie erklären soll«, hatte er gesagt, »ruf
mich ruhig an.«
Da war sie schon betrunken. »Ruf du bei mir an«, hatte sie geantwortet.
»Ich glaube, dass ich dir auch was beibringen könnte.« Sie hatte ihm ihre Nummer
gegeben. Ihrer [219] Erinnerung zufolge hatte er darum gebeten, doch er beharrt noch
heute darauf, dass die Initiative von ihr kam.
Die Geschichte ihres Kennenlernens war eine Anekdote geworden, die sie
Freunden und Bekannten schon zigmal erzählt hatte. Die Anekdote hat sich vor die
Wirklichkeit geschoben. Eine lustige Geschichte, von der es sowohl eine Kurzfassung
von dreißig Sekunden als auch eine lange Version von gut fünf Minuten gab. Fassungen
irgendwo dazwischen waren auch möglich.
Ein paar Wochen später hatte Roland in der Tat bei ihr angerufen. »Interessierst
du dich immer noch für Ökonomie?«, hatte er gefragt. »Eigentlich dreht sich alles
um Mangel.«
Sie hatten sich getroffen und waren miteinander
ins Bett gegangen. Lange wird es sowieso nicht dauern, hatte sie gedacht, doch es
war eine schöne Romanze. Und ging es nicht vor allem darum im Leben, um schöne Geschichten?
Die man einander im Winter vor dem Kamin erzählen konnte, gemütlich in einem Schaukelstuhl
sitzend?
Es war anders gekommen, ihre Beziehung dauerte länger, und je länger
sie dauerte, desto mehr verlor ihre Geschichte an Glanz.
Pünktlich um fünf verlässt sie an diesem Tag das Büro. Sie verabschiedet
sich von ihren Kollegen, und während sie zum Fahrstuhl geht, muss sie an die Frage
ihres Chefs heute Mittag beim Lunch denken: »Meinst du, dass Frauen wegen der Krise
bald weniger Handtaschen kaufen?«
Die Frage hatte eine Diskussion ausgelöst, und der zweite Geschäftsführer hatte behauptet, Damenhandtaschen seien vor allem
Geschenke von Männern an ihre Frauen.
[220] Geistesabwesend geht sie zum Radständer. Erst als sie davorsteht,
fällt ihr ein, dass ihr Rad in Reparatur ist.
Sie denkt an ihr erstes Telefongespräch mit Roland, wie er sich über
den Mangel ausließ. Vielleicht hat er es damals anders gemeint, und sie versteht
die wahre Bedeutung erst jetzt. Mangel herrscht an ihm, er macht sich rar, seine
Beachtung und Wärme sind knapp bemessen. Hingabe ist das Gegenteil von Mangel. Hingabe
ist Überfluss.
Violet geht über die Brücke zur Endhaltestelle der Straßenbahn Nr. 25.
Sie hat sich in der Innenstadt verabredet, in einer Kneipe nicht weit vom Hauptbahnhof.
Sie war noch einmal mit Roland ins Bett gegangen, und noch einmal, und
nach und nach war aus diesen Begegnungen unleugbar eine Beziehung geworden. Zu guter
Letzt hatte sie es ihrem Freund erzählt, der damals eigentlich sowieso schon mehr
oder weniger ihr Ex war, und er war überraschend ruhig geblieben. Er hatte gesagt,
dass es ihm eigentlich ähnlich ging, es gab eine andere, noch nichts Ernstes, aber
sie waren ein paarmal zusammen im Bett gewesen, und dass er es natürlich nicht so
toll finde, wenn sie jetzt mit seinem Diplombetreuer
was hatte, aber er den Mann ja nie mehr zu sehen brauchte und ihn von Anfang an
nicht besonders mochte. Dann hatte er einen Brief von Oberstein aus der Tasche gezogen,
und sie hatten ihn gemeinsam gelesen und laut darüber gelacht, aus unterschiedlichen
Gründen. Er schien wirklich belustigt, und sie hatte mitgelacht, um sich keine Blöße
zu
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