Mit Haut und Haaren
jemanden einzuladen. Gut für sie, gut für Jonathan:
etwas Zerstreuung, Gesellschaft.
[224] Immer noch kratzt Jonathan auf der Geige herum. »Es geht zunächst
einmal darum, sich an das Instrument zu gewöhnen«, hat Meneer van Neste gesagt.
»Wenn er zu Hause nicht übt, ist das am Anfang nicht schlimm.«
Nie verliert der Geigenlehrer die Geduld.
Vielleicht könnte sie einen Freund oder eine Freundin von Jonathan einladen,
doch dafür ist es zu spät. Bestimmt haben deren Eltern schon gekocht. Sie könnte
Violet fragen.
Violet hat schon ein paarmal Interesse an mehr Kontakt mit Sylvie bekundet,
ihr Freund hat ein Kind, schön ist das nicht, aber es lässt sich nun mal nicht ändern,
und bei einem Freund mit Kind gehört Kontakt zu dem Kind und vielleicht auch zur
Mutter des Kindes mit dazu.
Einmal hat Rolands Freundin zu ihr gesagt: »Ich finde
dich immer so frostig – was willst du nun eigentlich von mir? Kontakt oder keinen
Kontakt? Oder willst du mich auf Distanz halten?« Doch das war keine echte Offenheit, vermutet Sylvie, vielmehr Wut. Wut, dass ihr Freund
eine Vergangenheit hat, die sich nicht einfach auslöschen lässt, dass zum Kind ihres
Freundes auch eine Mutter gehört.
»Meinetwegen Kontakt«, hatte sie geantwortet, »aber müssen wir gleich
Busenfreundinnen werden?«
Sie hatte sich vorgenommen, alle unnötige Wut zu ignorieren, so wie in
der Praxis die Wut mancher Patienten. Als Konkurrentin hatte sie Violet sowieso
nie gesehen, nie sehen wollen. Ihr Mann hatte eine Stelle an der George Mason University
angenommen und sich auf dem Absprung nach Fairfax in die Freundin eines seiner Studenten
verliebt. Nicht, dass ihr das nicht weh getan hätte, doch [225] Schmerz war dazu da,
überwunden, nicht zelebriert und mit so vielen Leuten wie möglich geteilt zu werden.
Als Mutter musste man ohnehin pragmatisch sein. Man musste vergeben. Vergebung war
der Weg zur Genesung, hatte sie irgendwo mal gelesen.
Dies ist eine gute Gelegenheit, Violet einzuladen, ihr zu zeigen, dass
sie nicht frostig ist, dass es keinen Grund gibt, sie als Konkurrentin zu sehen.
Freundinnen brauchen sie nicht zu werden, aber freundschaftlich
miteinander umgehen können sie. Ein kleiner, aber entscheidender Unterschied. Und
Jonathan kommt sehr gut mit Violet zurecht, das ist viel wert. Ja, sie wird Violet
einladen. Dann kann sie ihr auch gleich erzählen, dass sie Roland vorgeschlagen
hat, ein Semester pro Jahr in den Niederlanden zu unterrichten, um so näher bei
seinem Kind zu sein, und damit auch bei Violet. Sie kann sich vorstellen, dass es
für die ebenfalls schön wäre, Roland öfter in der Nähe
zu haben. Vielleicht sollte sie es einfach so sagen: »Ich kann dafür sorgen, dass
ihr, du und Roland, euch öfter seht, wenn dir das recht
ist zumindest.«
Es ist nicht gut für ein Kind, immer nur mit seiner Mutter zusammenzuhocken.
So hatte sie es eines Abends auch Jonathan erklärt: »Wir streiten uns
so oft, weil wir niemand anderen zum Streiten dahaben.
Wir haben nur uns.« Und Jonathan hatte genickt, bedächtig wie ein alter Mann, schien
es ihr. Wie jemand, der alles versteht und es auch selbst schon gedacht, doch es
aus Höflichkeit und Weisheit für sich behalten hat.
Leise geht sie in den Flur und wählt Violets Nummer.
Auch hier herrscht ein ziemliches Durcheinander. [226] Kartons, aufgeklappte
Notenständer, Geigenkästen, eine Gitarre ohne Saiten.
Frostig, das hat noch niemand zu ihr gesagt. Damals stand sie darüber,
und das tut sie noch immer.
»Hallo, hier Sylvie. Störe ich?«, fragt sie.
»Ich sitz gerade bei einem Glas Wein mit wem in der Kneipe, aber nein,
du störst nicht.«
Sie hört Violet lachen. Das tut sie oft. Jemandem,
der so viel lacht, kann man nicht trauen, aber das hat sie Roland gegenüber immer
für sich behalten.
Ohne lange Vorreden fragt sie, ob Violet nachher zum Essen bei ihr vorbeikommen
möchte. Am anderen Ende ist es still. Violet scheint zu zögern. Die Frage hat sie
offenbar überrumpelt. »Ich weiß, das ist jetzt ein bisschen
auf den letzten Drücker, aber wir essen nicht so früh«, fügte Sylvie schnell hinzu.
»Jonathan hat gerade Geigenunterricht, und ich muss noch kochen.«
»Okay, schön!«, sagt Violet. Sie scheint nochmals zu zögern. »Soll ich
einen Nachtisch mitbringen?«
Einen Nachtisch. Sylvie überlegt. Das Geigenspiel ist verstummt. Sie
hört Meneer van Nestes Stimme, kann aber nichts verstehen.
»Vielleicht könnt ihr zusammen Pfannkuchen backen«,
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