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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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geben.
    In der Tasche sucht sie nach ihrer Streifenkarte. Sie ist sich nicht
sicher, ob sie Roland eine SMS schicken soll, dass
sie sich gleich mit Wytse trifft, um ihm die Sache noch
mal [221]  zu erklären. Den Namen hat sie bisher verschwiegen. Keine Namen in solchen
Situationen, nicht gegenüber dem Freund und auch nicht gegenüber Freundinnen. »Ein
Mann«, das ist genug. Mehr wäre indiskret. Ein Name gibt der einmaligen Aufwallung
ein Gewicht, das sie nicht verdient.
    In der Straßenbahn holt sie Mister Aufziehvogel aus ihrer Tasche hervor. Sie hat das Buch hineinquetschen müssen. Ihr Lesezeichen
ist eine Fahrkarte.
    Violet weiß ungefähr, was sie gleich sagen wird. »Es hatte eigentlich
nicht viel mit dir zu tun. Bezieh die Sache nicht so auf dich persönlich.«
    Und wenn er dann fragt: »Was?«, wird sie sagen: »Meine Hingabe, meine
Leidenschaft.«
    12
    Wie er darauf gekommen ist, wer ihn auf die Idee gebracht hat,
weiß Sylvie nicht, aber es war nun mal Jonathans Wunsch: Er wollte Geige spielen
lernen.
    Über eine Patientin hatte sie die Telefonnummer eines Mannes bekommen,
der Kindern Privatunterricht gibt. Privatstunden erschienen ihr als das Beste.
    Der Lehrer war ein sympathischer Mann, der in einer etwas unordentlichen
Erdgeschosswohnung in der Innenstadt unterrichtete. »Kaufen Sie noch keine Geige«,
hatte er zu ihr gesagt, »leihen Sie sich lieber vorläufig
eine.«
    Dabei hatte er sie besorgt und doch liebevoll angeblickt, [222]  als sehe
er in Gedanken schon eine sündhaft teure Geige vor sich,
die unbenutzt in einem Kleiderschrank lag.
    Sie hatte eine Geige gemietet, die kleinste, die es gab. Seither bringt
sie Jonathan jeden Dienstag zu seinem Lehrer, der unbedingt Hans genannt werden
will. Sie allerdings bleibt hartnäckig bei Meneer van Neste, vielleicht, weil er
so etwas Väterliches hat, und vielleicht auch, weil sie Patienten in fortgeschrittenem
Alter ebenso wenig duzt. Trotz seiner jugendlichen Ausstrahlung ist Meneer van Neste
schließlich unverkennbar ein älterer Mann.
    Zu Hause übt Jonathan selten.
    »Macht es dir überhaupt noch Spaß?«, fragt sie ihn oft, und er antwortet jedes Mal überzeugend mit Ja, spielt aber
trotzdem nicht. Sie hat die Regel eingeführt, dass Jonathan übt, während sie morgens
den Brei zubereitet, doch meist läuft es darauf hinaus,
dass er mit seiner Geige am Fenster steht und die Vögel beobachtet.
    In der Nacht hat sie kaum geschlafen. Als sie endlich zu Hause waren
und sie Jonathan ins Bett gebracht hatte, war sie auf einmal hellwach, wieder einmal.
Eine durchwachte Nacht kommt bei ihr häufiger vor. Sie
lag im Bett, Jonathan schlafend daneben, und fragte sich, ob sie Lysander nicht
doch noch mal anrufen sollte – bei depressiven Menschen weiß man ja nie – und ob
sie ihm nicht vielleicht eine letzte Chance geben sollte. Doch als sie die Idee
in die Tat umsetzte, früh am Morgen, nahm niemand ab.
    Eine gute Freundin hat zu ihr gesagt: »Du musst ihn loslassen.« Doch
wie lässt man jemanden los ohne bleibenden Schaden?
    Sie verscheucht den Gedanken. Zusammen mit [223]  Jonathan ist sie unterwegs
zum nachmittäglichen Geigenunterricht.
    »Jonathan«, ruft sie. »Stoß mit dem Geigenkasten
nicht überall an, das ist schlecht für das Instrument.«
    Meneer van Neste öffnet die Tür, begrüßt hocherfreut
Mutter und Kind und geht dann sofort nach hinten, wo sein Unterrichtszimmer liegt.
Sylvie folgt ihm, Jonathan an der Hand, setzt sich auf einen Stuhl und schaut zu,
wie ihr Sohn seine Geige auspackt.
    Ob Meneer van Neste in diesen Räumen wirklich wohnt? Sie kann es sich
kaum vorstellen, hinter dem Zimmer hat sie einmal so etwas wie eine Küche gesehen,
aber die machte ihr nicht den Eindruck, als könne man sie benutzen.
    »Was wollen wir spielen?«, fragt Meneer van Neste. ›Fuchs, du hast die
Gans gestohlen‹?«
    Jonathan schüttelt den Kopf.
    »Nicht immer bocken«, sagt Sylvie.
    Jonathans Dickköpfigkeit ärgert sie, doch
sie will sich nicht einmischen, um die Autorität von Meneer van Neste nicht zu untergraben.
    »Lass es uns doch mal mit dem Lied probieren«, sagt Meneer van Neste.
»Und dann klatschen wir.«
    Durch das Klatschen soll Jonathan ein Gefühl für Rhythmus entwickeln.
    Meneer van Neste beginnt zu spielen, während Jonathan auf dem Instrument
Geräusche hervorbringt, die entfernt an Geigentöne erinnern. Während sie zusieht,
fragt Sylvie sich, was sie nachher kochen soll. Eingekauft hat
sie schon. Vielleicht wäre es nett,

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