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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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paarmal hat Roland versucht, ihn in die Diskussion einzubeziehen, doch
mittlerweile hat er es aufgegeben. Sein Theater der Wissensvermittlung hat eine
Stilmetamorphose durchlaufen. Schweigen ist jetzt erlaubt. Keine Piercings sehen,
nur noch Ideen. Das ist seine Aufgabe hier.
    [230]  In der dritten Reihe, auf der Türseite, sitzt eine besonders attraktive
Studentin, mit der er zweimal ins Gespräch zu kommen versuchte, doch beide Male
dauerte das Gespräch nicht länger als zwanzig Sekunden.
    Ein Gaukler braucht er in Fairfax nicht mehr zu sein, nur noch ein akzeptabler
Dozent. Das schillernde Trugbild ist nun seine Forschung.
    Während er erst über Hume und dann über Smith redet und einige Fragen
beantwortet – er hat dieses Seminar schon zigmal gegeben –, schweifen seine Gedanken
ab zu seiner Ex, seinem Sohn, seiner Freundin und seiner Mutter, die er jeden Dienstagnachmittag
anruft, wenn es in Fairfax halb drei ist.
    Normalerweise schweift er nie so weit mit
den Gedanken ab. Normalerweise ist er voll konzentriert.
    Was erwartet seine Exfrau von ihm? Er kann einen Kredit aufnehmen und
ein Au-pair-Mädchen für sie bezahlen. Ist das nicht besser, als ein Semester in
den Niederlanden Vorlesungen zu geben und Vater zu spielen, eine Rolle, die ihm
nie besonders gelegen hat?
    In Harmonie mit seiner Umgebung zu leben bedeutet, sich von der Umgebung
unabhängig zu machen. Hysterisches Aufmerksamkeitheischen stört ihn. Erwachsene
denken oft zu Unrecht, einen Anspruch auf Beachtung zu
haben oder Rechte daraus ableiten zu können, dass sie in der Vergangenheit einmal
Beachtung erhielten. Weil sie im Jahr 2008 soundso viel Aufmerksamkeit bekommen
haben, meinen sie, im Jahr 2009 ebenso viel beanspruchen zu können oder noch mehr.
Warum nur? Welche stillschweigende Abmachung liegt dieser Annahme zugrunde?
    [231]  Natürlich haben Studenten ein Recht auf eine gewisse Aufmerksamkeit.
Doch diese Aufmerksamkeit ist genau definiert, für sie
gibt es Regeln, an die beide Parteien sich halten müssen.
    »Wir machen mit Adam Smith weiter«, sagt Oberstein. » Theorie der ethischen Gefühle, ich zitiere: ›Ja, wir empfinden Sympathie sogar mit den Toten, und, ohne dass wir auf
das achten würden, was in ihrer Lage wirklich wichtig ist, nämlich die furchtbare
Zukunft, die ihrer wartet, machen auf uns vielmehr jene
Umstände besonderen Eindruck, die zwar uns in die Augen fallen, die aber auf ihre
Glückseligkeit keinen Einfluss haben können. Es ist bejammernswert,
denken wir, des Sonnenlichtes beraubt zu sein; ausgeschlossen zu sein vom Leben
und vom Umgang mit Menschen; ins kalte Grab gelegt zu werden als eine Beute der
Verwesung und des Gewürms der Erde. Der Tote ist bejammernswert, denken wir, weil
niemand mehr in dieser Welt seiner gedenkt und er in kurzer Zeit aus der Liebe und
fast sogar aus dem Gedächtnis seiner liebsten Freunde und Verwandten verstoßen sein
wird.‹ Was sollen wir uns unter dieser ›Sympathie‹ – oder vielmehr: dem Mitgefühl
– mit den Toten vorstellen? Wo wir doch ihr Glück oder Unglück kaum mehr beeinflussen können? Und was bedeutet das für die Lebenden? Was
beeinflusst ihr Unglück? Und warum sind diese Fragen
für den Wirtschaftswissenschaftler
so wichtig? Welchen Platz nehmen sie im relativ kleinen Œuvre von Adam Smith ein?
Bitte denkt bis zum nächsten Mal darüber nach, und denkt nicht nur nach, sondern
bringt auch etwas Zusammenhängendes zu Papier, ausgehend von den Texten, die wir
bisher gelesen haben. Bezieht [232]  dabei in eure Überlegungen auch ein, was Smith
etwas weiter unten im Text über den Tod sagt: ›… das stärkste Gift für jedes Glück, aber auch die gewaltigste Schranke für
die Ungerechtigkeit der Menschen, die, während sie den Einzelnen bedrückt und ihn
quält, doch die Gesellschaft hütet und beschützt‹.«
    Pünktlich auf die Minute schließt er mit der Bemerkung: »Das war’s für
heute. Wir sehen uns wieder nächsten Dienstag um elf.«
    Er wartet, bis der Student links vorn die Tür aufgemacht hat, dann schiebt
er seine Bücher in die Plastiktüte. Niemand kommt zu ihm, niemand stellt eine Frage.
Die attraktive Studentin geht als Erste schweigend hinaus. Ein akzeptabler Dozent
ist offenbar vor allem ein unsichtbarer Dozent.
    Er wartet, bis die ersten Studenten den Raum verlassen haben, dann geht
auch er. Die Zurückbleibenden, die ihre Jacken noch anziehen und immer noch ihre
Taschen packen, werden die Tür schon hinter sich schließen.
    Durch die

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