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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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Oberstein keinen Führerschein hat, glauben manche Kollegen, ihm
einen Gefallen zu tun, wenn sie ihn irgendwohin mitnehmen, selbst wenn er überhaupt
nicht von A nach B muss. Als sei Autofahren etwas, das wie das Essen ein paarmal
pro Tag unerlässlich ist.
    »Oder bist du beschäftigt?«, fragt Weinert.
    »Kein Problem«, antwortet Oberstein. »Nichts, was nicht bis heute Abend
oder morgen Zeit hätte.«
    Er fährt den Computer herunter und folgt Weinert nach draußen. Er fühlt
sich dem Kollegen verpflichtet, schließlich hat sich
der Mann in seinen ersten Wochen in Fairfax um ihn gekümmert.
    Es ist ein herrlicher Herbsttag.
    »Früher kriegten britische Diplomaten, die in Washington D.C. akkreditiert waren, Tropenzuschlag, und das ganz zu
Recht. Die Sommer hier sind die Hölle. Aber jetzt ist es fast paradiesisch«, sagt
Weinert.
    Er hält Oberstein die Autotür auf. Weinert fährt einen Sportwagen. Irgendwie
findet Roland, dass so ein Schlitten nicht zu ihm passt,
hat das aber nie angesprochen.
    Einmal, als er am Center noch neu war, hatte Weinert ihn zu sich nach
Haus eingeladen, auf einen Drink nach dem Abendessen. Weinert wohnt mit seinem sechsundzwanzigjährigen
Sohn zusammen. Der Sohn hat einen Abschluss [261]  an einem Liberal Arts College gemacht,
doch dann eine Sinnkrise bekommen und steht jetzt bei Taco Bell hinter der Theke.
»Er krempelt die Ärmel hoch«, hatte Weinert gesagt, »das ist das Wichtigste.«
    Wo die Mutter des Sohns beziehungsweise Weinerts Frau abgeblieben ist,
hat Oberstein nie gefragt. Die Frau ist auch nie zur Sprache gekommen, als habe
sie sich in Luft aufgelöst.
    Die Wohnung von Vater und Sohn machte auf Oberstein einen überraschend
kargen Eindruck, karger, als Weinerts Anzüge und Auto vermuten ließen. In der Spüle
stand mindestens zwei Wochen alter Abwasch. Der Esstisch – jedenfalls vermutete
Oberstein, dass dieses Möbel der Esstisch sein sollte – war mit Tassen, Zeitschriften und Büchern übersät. Und selbst als Weinert alle Lichter
angemacht hatte, blieb das Zimmer in vages Halbdunkel gehüllt.
    Gegen neun kam der Sohn nach Hause, ein freundlicher, dicklicher junger
Mann. Ein unangenehmes Schweigen hing zwischen Vater und Sohn, ein Schweigen, das
Weinert zu guter Letzt mit der Bemerkung gebrochen hatte: »Das ist Roland Oberstein,
er ist neu in Fairfax. – Im Kühlschrank liegt noch ein Hamburger, den kannst du
dir warm machen. Wir haben schon gegessen.«
    Oberstein fragte sich, warum ein Vater, der selbst von gedünstetem Broccoli
lebte, seinen Sohn mit Hamburgern fütterte.
    »Du möchtest doch bei uns an der Fakultät bleiben?«, hatte Weinert Oberstein
schließlich gefragt. »Ich nehme an, du willst deine Tenure bekommen.« Ein begehrter Status in der Karriere eines Hochschuldozenten: Eine Tenure [262]  kam einer Festanstellung gleich und machte es der jeweiligen Universität schwierig,
ja so gut wie unmöglich, den Betreffenden noch irgendwie
loszuwerden, obwohl ältere Kollegen klagten, dass die Tenure auch nicht mehr dasselbe
war wie früher.
    Der Sohn ging auf sein Zimmer, der Vater nahm zwei schmutzige Tassen
vom Tisch, spülte sie aus und begann, Kaffee zu kochen.
    »Du kennst niemanden hier«, sagte er plötzlich.
    Die Feststellung stimmte, doch Oberstein wartete vergebens auf eine Schlussfolgerung.
    Während Oberstein sich umsah, beschlich ihn die Vermutung, dass Weinert
selbst, obwohl seit mehr als zehn Jahren Dozent an der George Mason, ebenfalls niemanden
kannte. Höchstens seinen Sohn.
    Sie fahren zu dem Luxuskaufhaus. Weinert schweigt, er fährt gern
Auto.
    Nach einer Weile klingelt Obersteins Handy. »Entschuldigung«, sagt er,
»die Mutter meines Sohns, ich muss rangehen.«
    Weinert nickt.
    »Du rätst nie, wer heute Abend zum Essen hierherkommt«, hört er.
    »Ich sitze mit einem Kollegen im Auto«, antwortet Roland. »Ist es dringend?«
    »Violet kommt zum Essen«, sagt seine Exfrau.
    »Wie schön, aber ich sitze mit einem Kollegen
im Auto.«
    »Sie will mit Jonathan Pfannkuchen backen.«
    »Schön.«
    [263]  Das findet er wirklich. Es freut ihn, dass
Jonathan und Violet etwas zusammen unternehmen. Zwar hat Violet ein paarmal gemeint:
»Ich will keinen Familienanschluss, an deine vorige Familie, meine ich. Wenn ich
irgendwann mal eine will, dann eine eigene.« Das versteht er. Man fängt eine Beziehung
mit einem Mann an, nicht mit seiner Familie. Zumindest, wenn man so jung ist wie
Violet. Mit zunehmendem Alter steigt die Tendenz, ganze

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