Mit Haut und Haaren
sie sich zu stark bewegt.
»Welche Situation?«
»Die mit Roland.«
Sylvie weiß nicht, was sie darauf antworten soll. »Ich glaube, es wird
dir gut stehen«, sagt sie darum. »Es ist schade, dieses Gelb. Roland wird sich freuen.«
»Wenn es ihm auffällt.«
[273] »Es wird ihm schon auffallen. Du wirst ihn verführen mit deinen weißen
Zähnen.«
Was hat sie jetzt wieder gesagt? Liegt es am Wein oder an der Müdigkeit?
Es geht sie nichts an, ob Violet den Vater ihres Kindes verführt oder nicht. Sie
hätte nicht davon anfangen sollen.
»Kennst du ihn als Mann, der auf Zähne viel Wert legt?«, fragt Violet.
»Auf Zähne? Ich kenne ihn als Mann, der auf Vorsicht viel Wert legt,
als praktischen Mann. Einen Mann, der immer einen Plan B parat hat und einen Plan
C und oft noch einen Plan D. So war er jedenfalls, als
wir noch zusammen waren.«
Violet stellt die Teller verwirrt zurück auf den Tisch. Sie geht in den
Flur und holt ihre Jacke. »Ich muss jetzt nach Hause. Die Entwürfe müssen nach China.
Schaffst du’s allein?«
»Ich komm schon zurecht«, sagt Sylvie und streichelt ihrem Sohn mechanisch
über den Kopf.
»Was ich noch sagen wollte: Wenn es mal nötig ist, will ich gern einen
Abend auf Jonathan aufpassen.«
»Das ist lieb«, flüstert Sylvie und sieht
eine Entführung vor sich: Violet, die Jonathan als Geisel nimmt, weil sie wütend
auf Roland ist. Was für eine paranoide Idee!
Violet gibt Sylvie einen Kuss. »Bleib ruhig sitzen«, sagt sie. Dann geht
sie zur Tür.
»Ruf mich an wegen einem Termin, zum Bleichen«, murmelt Sylvie noch,
während sie ihren Sohn unausgesetzt streichelt.
Doch sie kann den Gedanken nicht loswerden: Violet will Jonathan entführen.
[275] IV
Gewinnmitnahme
[277] 1
Noch bevor Lea ihre Wohnung in Brooklyn verlassen hat, weiß
sie, dass sie zu spät kommen wird. Ihre Unpünktlichkeit ist notorisch, Freunde kennen
es nicht anders, doch Roland Oberstein hat bisher keine Erfahrung mit ihr. Sie trägt
ein Kleid, das sie einmal zur Hochzeit einer Freundin gekauft
hat. Die Hochzeit war eine Enttäuschung, doch das Kleid gefällt ihr noch
immer.
Als sie sich eben im Bad herrichtete, rief plötzlich ihr Mann an. Er
wollte mit den Kindern sprechen, aber sie erklärte, dass die schon schliefen. Sie
könne nicht lange reden, weil sie gleich wegmüsse, fügte sie noch hinzu, und er
fragte: »Wo gehst du eigentlich hin?«
»Das hab ich dir schon dreimal erzählt. Ich hab eine Verabredung mit
dem Wirtschaftswissenschaftler.«
»Warum lädst du ihn nicht ein, wenn ich wieder zu Hause bin?«, erwiderte
ihr Mann. »Familienleben bedeutet, dass man etwas gemeinsam unternimmt.«
»Familienleben bedeutet aber auch, dass man ab und an etwas allein tut.«
»Und wer bleibt bei den Kindern?«
»Nancy.«
»Wer ist Nancy?«
»Die Babysitterin von nebenan.«
Sie hat einen Deal mit ein paar Nachbarn und [278] Bekannten: Manchmal babysittet
sie bei ihnen, manchmal kommen die andern zu ihr, und wenn die selbst nicht können,
überlassen sie ihr vorübergehend ihre eigenen Babysitter. Nancy sitzt im Wohnzimmer
auf dem Sofa und spielt mit der Katze. Sie stammt aus Kalifornien.
»Wie ist es in Albany?«, versuchte Lea schließlich, das Gespräch mit
etwas Unverfänglichem zu beenden.
»So wie’s in Albany immer ist«, antwortete Jason.
Sie kämmte sich die Haare, trug Lippenstift auf
und gab Nancy sicherheitshalber noch ihre Handynummer.
Lea findet ihren Aufzug verführerisch. Schick,
und doch ein klein wenig verrucht.
Sie rennt Richtung U-Bahn, an einer roten Ampel schreibt sie Roland schnell
eine SMS : »Bin gleich da, es wird zehn Minuten später.«
Lange war sie Ehefrau, Mutter, Kunsthistorikerin, Tochter – eine schlechte,
undankbare, ihrer Mutter zufolge –, doch jetzt will sie mehr.
In der U-Bahn merkt sie, dass »zwanzig Minuten später« die realistischere
Einschätzung gewesen wäre, doch sie geht davon aus, dass sich Roland in dem Bistro
wohl fühlt –schließlich war es seine Wahl – und er an der Bar in aller Ruhe ein
Glas Wein trinkt, bis sie kommt.
An der Upper West Side stellt sich heraus, dass sie sich die Straße falsch
gemerkt hat, sie muss sich durchfragen. Beim Namen »Nice Matin« schauen zwei Passanten
sie an, als wäre sie übergeschnappt. Unterdessen schickt sie Roland eine weitere
Nachricht: »Noch drei Minuten.«
Als sie mit sechzehn zum ersten Mal eine Nacht außer Haus verbrachte,
öffnete am nächsten Morgen, noch bevor [279] Lea den
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