Mit Haut und Haaren
Beiträge werde ich zuerst lesen.« Sie versucht, dabei ein schelmisches
Gesicht aufzusetzen, damit das Thema die Stimmung nicht komplett überschattet.
»Dann leg mal los«, sagt er. »Ich bin bereit. Du wolltest mich doch ein
paar Dinge fragen?«
Sie nimmt noch einen Schluck von dem Wein, der ihr nicht schmeckt.
»Warum hast du Wirtschaftswissenschaften studiert? Wenn ich damit anfangen darf. Wenn du dich für
Völkermord interessierst, ist Wirtschaftswissenschaft doch nicht die nächstliegende Wahl?«
»Ich wollte die Wirklichkeit untersuchen. Geschichte reizte mich nicht.
Soziologie auch nicht. Ich weiß nicht, womit Soziologen sich beschäftigen, die Wirklichkeit ist es jedenfalls nicht oder nur selten.
Anthropologie? Zu verquast. Gynäkologie? Da untersucht man nur ein sehr kleines
Stück Welt. Darum Wirtschaft.«
»Und warum interessiert sich ein Wirtschaftswissenschaftler für Völkermord?«
Sie spielt mit einem Stück Brot.
[286] »Wenn es um Völkermord geht, werden die Leute vor Pietät blind, man
darf an das Thema kaum analytisch herangehen. Völkermord hat irrational zu sein
und unter dieser Prämisse betrachtet zu werden. Als unbegreiflicher, irrwitziger
Betriebsunfall der Geschichte. Doch wie wir wissen, kann Völkermord sich zu einer
regelrechten Industrie auswachsen. Doch ist es wirklich so, dass diese Industrie
den Tätern nichts bringt? Ist Genozid so irrational, wie wir im Allgemeinen vermuten?
Solche Fragen werden viel zu selten gestellt, fand ich.«
»Eiskalt.«
»Was?«
»Wie du da redest. Eiskalt. Steigen dir nie Tränen in die Augen, wenn
du zum Beispiel an den Holocaust denkst?«
»Selten.« Er lächelt wieder. Verschränkt die Arme. »Wer sich vorgenommen
hat, die Wirklichkeit zu untersuchen, kann sich die Kuscheldecke des Sentiments
nicht erlauben. Und das sage ich nicht erst seit heute, ich hab das schon früher
zu meinen Studenten gesagt. So ist das nun mal. All unsere Gespräche bestehen aus
Versatzstücken, die wir zuvor schon in anderen Gesprächen benutzt haben.«
Sie kann sich vorstellen, wie er unterrichtet: in höflichem Ton und doch
arrogant. Wenn auch diese Arroganz vielleicht nichts anderes ist als ein Selbstschutz.
Warum dieser Mann? Warum glaubt sie, etwas von ihm bekommen zu können?
Ein ehrgeiziger Wirtschaftswissenschaftler mit einem merkwürdigen Hobby. Warum nicht Durano? Ebenfalls
Wirtschaftswissenschaftler,
auch mit einem Hobby womöglich, aber wenigstens praktisch veranlagt. Ein Mann aus
Fleisch und Blut, mit körperlichen [287] Bedürfnissen. Bei dem hier ist alles nur Worte,
Worte, Worte, und dazwischen ab und zu ein Lächeln. Gut, sie teilen ein paar Interessen,
doch darauf kommt es ihr nicht an – gerettet will sie von ihm werden. Er scheint
sich für ihre Ansichten zu interessieren. Doch sie retten – warum sollte er das
tun?
»Und deine Eltern?«
»Was ist mit meinen Eltern?«
»Wie stehen sie zu dem Thema?«
Er rückt seinen Stuhl vom Tisch ab. »Oh nein«, sagt er. »Dafür bist du
bei mir an der falschen Adresse. Wenn du psychologisieren willst, reim dir selbst
eine Geschichte zusammen. Ich bin kein Schriftsteller,
der seine Hirngespinste als persönliche Erlebnisse verkauft
und so zu legitimieren versucht. Alles, was ich dir sagen kann, ist: Ich
habe mich abgekoppelt.«
»Abgekoppelt?«
»Wie einen Waggon.«
»Du bist ein abgekoppelter Waggon?«
Sie versucht, höhnisch zu klingen, doch das scheint er nicht zu bemerken.
»Ich bin ein Waggon, der sich abgekoppelt hat.«
»Wovon?«
»Vom Rest des Zuges. Unter anderem auch von meinen Eltern. Ich reklamiere
kein Leiden, das ich nicht erlebt habe. Ich halte sowieso nichts vom Leiden. Wahrscheinlich
bin ich darum auch nicht gläubig.«
Sie beschließt, diese Spitze zu ignorieren. Ihr gegenüber sitzt ein abgekoppelter
Mann. Seine Eltern interessieren sie nicht, seine Ansichten findet sie bestenfalls unterhaltsam. [288] Sie will etwas anderes
von ihm, wenn schon keine Rettung, dann wenigstens Lust.
»Und du stehst auf dem Abstellgleis?«
»Das hast du gesagt.«
Er nimmt einen großen Schluck Wein.
»Ärgere ich dich?«, fragt er.
»Nein. Legst du es darauf an?«
Sie fragt sich, warum sie so fest überzeugt ist, dass dieser Mann letztendlich
gefühlvoll ist. Worauf gründet ihr Glaube? Vielleicht auf etwas, das in Frankfurt
passiert ist oder gesagt wurde, einer Geste, einem Blick, aber jetzt wüsste sie
beim besten Willen nicht mehr, was es war. Auf Hoffnung.
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