Mit Haut und Haaren
Schlüssel
ins Schloss stecken konnte, ihre Mutter die Tür. »Du Schlampe«, schleuderte sie
ihr entgegen, wandte sich ab und verschwand in der Küche.
Roland Oberstein antwortet: »Wollte schon mein Essen bestellen, nun warte
ich noch einen Moment.«
Fast vierzig Minuten nach dem vereinbarten Zeitpunkt betritt Lea das
Bistro. Als das Mädchen am Eingang sie fragt: »Kann ich Ihnen helfen?«, merkt Lea,
dass sie nicht mehr weiß, wer reservieren sollte und ob überhaupt reserviert ist.
»Ich habe eine Verabredung mit Roland Oberstein«, sagt sie.
Das Mädchen geht eine Liste mit Reservierungen durch und zeigt auf einen
Mann an der Bar. »Ist es der Herr dort?«
»Nein«, antwortet Lea.
Sie macht ein paar Schritte ins Restaurant. Das Mädchen folgt ihr auf
dem Fuß, wie um sie zu beaufsichtigen. Endlich entdeckt sie ihn, an einem etwas
ungünstigen Platz: halb versteckt hinter einer großen Pflanze.
Lea geht zu ihm, entschuldigt sich, küsst ihn auf beide Wangen und fragt:
»Oder ist es bei euch dreimal?«
Sie nimmt Platz, und er antwortet: »Willst du mich betrunken machen?
Das ist schon mein drittes Glas Wein.«
»Die Babysitterin war unpünktlich, dann rief mein Mann an, und außerdem
komme ich immer zu spät.«
Zwei Wahrheiten und eine Notlüge. Kein schlechter Schnitt.
»Du kommst immer zu spät? Warst du deswegen
in Therapie?«
Sie schüttelt den Kopf. Hier sitzt sie, bereit, sich wegzuwerfen. Mit
einer Gewissheit, die sie selbst überrascht, [280] wird ihr in dem Moment klar: Dazu
ist das Leben da – dass man es vergeudet. Verschwendet.
»Ich hab den Brotkorb fast leer gegessen, ich hatte Hunger. Möchtest
du etwas trinken?«, fragt Roland.
»Was trinkst du?«
»Sancerre.«
»Ich mag lieber Roten. Ich denke, ich komme immer zu spät, weil ich unbewusst
keine Bindung eingehen will. Glaube ich zumindest. Vielleicht eine etwas merkwürdige
Theorie, aber es hat mich auch noch niemand vom Gegenteil überzeugt.«
»Sehr merkwürdig, in der Tat. Außerdem bist du verheiratet. Du bist schon
gebunden.«
Sie nimmt das letzte Stück Brot aus dem Korb. Die Butter ist alle. Sie
steckt sich das Brot trocken in den Mund.
Oberstein trägt ein hellblaues Hemd, das sie in Frankfurt schon an ihm
gesehen hat.
»Man kann heiraten und sich trotzdem nicht binden. Das eine schließt
das andere nicht aus. – Wie geht es dir?«
»Gut. War übrigens gar nicht so schlimm, auf dich zu warten. Endlich
konnte ich die Zeitung mal wieder von A bis Z durchlesen.«
Eine junge Kellnerin bringt ihnen die Karte.
Lea schaut kurz hinein. Die üblichen Standardgerichte. Sie hätte sich
dieses Restaurant nicht ausgesucht. Sie findet es hier
zu laut, die Speisekarte ist phantasielos und die Bedienung eine Spur hochnäsig.
Sie versucht sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn sie sich mit Sven
Durano verabredet hätte. Er hätte bestimmt ein anderes Restaurant gewählt. Durano
hat ihr noch [281] einmal gemailt. Eine freundliche, unverbindliche Nachricht. Er würde
sie gern noch mal sehen, schrieb er, aber sie war sich nicht sicher, ob das ernst
gemeint war oder nur eine höfliche Floskel.
»Und wie geht es den Kindern?«, fragt Oberstein.
Von Durano hat sie keine Rettung erwartet, er hat ihr einen praktischen,
notwendigen Dienst erwiesen, wie ein Klempner, der eine Verstopfung beseitigt, einen
sehr wichtigen Dienst vielleicht, aber wer würde schon den Klempner mit einem Retter
verwechseln?
»Gut. – Verstehst du was von Wein?«
»Nein, aber wenn ich Roten bestelle, nehme ich meistens Pinot Noir, damit
hab ich gute Erfahrungen gemacht. Mit Merlot eher schlechte. Ist dir das Weinkenntnis
genug?«
Auf dem Tisch steht eine Flasche Mineralwasser. Sie will sich und ihm
einschenken, doch er kommt ihr zuvor. »Hast du diesen Film gesehen«, fragt er, »mit
den zwei Männern auf Weintour in Kalifornien?«
»Nein.«
»Da haben sie doch auch immer Pinot Noir getrunken?«
»Ich habe den Film nicht gesehen.«
Er lacht, wirkt gelöst. Für einen Moment geht ihr durch den Kopf, dass
er vielleicht nur aus Höflichkeit gekommen ist. Oder aus Interesse am Holocaust.
Wie hatte er es doch gleich wieder gesagt? Der Völkermord aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht war
sein Hobby.
Sie bestellen ihren Wein bei der arroganten Bedienung, und die fragt,
ob sie den Rest der Bestellung auch gleich aufgeben möchten.
Lea schwankt zwischen Lachs und dem Steak, [282] entscheidet sich dann aber
für das Steak. Fleisch wird ihr heute
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