Mit Haut und Haaren
sein. Verzweifelte Hoffnung.
»Darf ich die Frage zurückgeben? Warum Höß?«
Sie wiegt bedächtig den Kopf. »Warum Höß? Du hast recht, es gibt keinen
Grund, ein Buchprojekt, das mich schon seit Jahren beschäftigt,
auf banale, persönliche Erlebnisse zurückzuführen, die allerdings weniger banal
sind, als du vielleicht denkst. Darum lass es mich so sagen: In einem Vorwort zur
amerikanischen Ausgabe der Höß-Memoiren erwähnt Primo Levi eine Affäre, die Höß mit einer Lagerinsassin gehabt haben soll. Höß
rettete seine Haut, indem er die Gefangene ermorden ließ.«
»Ich kenne diese Ausgabe. Auch interessant, dass Levi in seinem Vorwort
betont, die Memoiren hätten keinen literarischen Wert. Als sei erst dies das wahrhaft Ungeheuerliche: ein Massenmörder, der Literatur hervorbringt.«
Sie ignoriert die Bemerkung.
»Wie auch immer«, sagt sie. »Die Geschichte ließ mich nicht los. Ich
schrieb einen Artikel darüber, und als der [289] erschienen war, fragte mich ein Literaturagent:
›Möchten Sie darüber nicht noch mehr schreiben?‹«
»Und du hast ja gesagt?«
»Ich habe ja gesagt.«
Langsam zerkrümelt sie ein Stück Brot zwischen den Fingern.
»Und so wird ein reizendes Mädchen aus guter Familie Expertin für einen
Massenmörder?«
»So wird man Expertin«, sagt sie. »Worin, das ergibt sich erst später.
In erster Linie ging es mir darum, Expertin zu werden. Über die ›gute Familie‹ darfst
du dir übrigens auch nicht zu viele Illusionen machen. Meine Eltern sind geschieden.«
Während sie das sagt, erscheint ihr Buch ihr als Unsinn, ja, schlimmer
noch, als ein Irrtum. »Irrtum« ist eigentlich auch noch freundlich ausgedrückt.
Schlecht, nicht im Sinn von »missglückt«, aber abseitig, moralisch verwerflich.
Sie schüttelt den deprimierenden Gedanken ab. Leute, denen sie ein paar
erste Kapitel aus ihrem Buch zu lesen gab, nannten es »kenntnisreich«, »mutig«,
und sogar »wichtig«. Diese Leute können sich nicht alle irren.
»Auch geschiedene Eltern gehen heutzutage als ›gute Familie‹ durch«,
sagt Oberstein. »Die lassen sich aber Zeit hier.«
»Womit?«
»Mit dem Essen.«
»Langweile ich dich?«, fragt sie.
»Nein, ganz und gar nicht«, sagt er, »aber man wird ja noch Hunger haben
dürfen?«
Sie spielt mit ihrem Glas. »Es war Zufall«, sagt sie. [290] »Irgendwann
las ich die Memoiren von Höß, und vorn, in dem Vorwort von Levi, fiel eine Bemerkung über Höß und seine Affäre. Mehr nicht. Höß selbst verlor darüber kein einziges
Wort. Das ließ mich nicht los. Klingt das unverständlich? Oder merkwürdig? Krank?«
Er schaut sie an. Zum ersten Mal heute Abend wirkt er fröhlich, fast
glücklich.
»Du sagst, du hast die Memoiren von Höß zufällig gelesen?«
Es klingt höhnisch, doch irgendwie auch liebevoll. Oder redet sie sich
das nur ein? Macht sie sich etwas vor?
»Er liebte Pferde«, sagt sie. »Höß. Mit sieben bekam er ein Pony. Es
hieß Hans. In seinen Memoiren schreibt er, er sei darüber fast außer sich gewesen
vor Freude.«
Oberstein winkt der Kellnerin.
Er holt sein Handy aus der Hosentasche, wirft einen
Blick darauf.
»Eine Freundin«, sagt er.
»Dann geh doch ran«, meint Lea.
Roland schüttelt den Kopf.
»Eine Freundin oder deine Freundin?«
»Meine Freundin.«
»Warum bist du nicht rangegangen?«
Roland nimmt noch ein Stück Brot aus dem Korb. »Völkermord geht vor.«
[291] 2
Violet war aus dem Kino gekommen, aus einem Film, in dem sie
– am Anfang, in der Mitte? – irgendwann eingeschlafen war, obwohl sie ihn gar nicht
so schlecht fand. Casanova von Fellini. Er lief im Filmmuseum.
Vermutlich war es Wytse gar nicht aufgefallen, jedenfalls hatte er kein
Wort darüber verloren. Über den Film ebenso wenig, der war wohlnicht ganz nach seinem Geschmack. Oder vielleicht war er selbst
eingeschlafen.
Violet trug ein meergrünes Kleid, das sie zusammen mit Mirjam einmal
in Antwerpen gekauft hatte. Es war sehr teuer, aber Roland
hatte ihr das Geld dazu gegeben. Er bezahlt gern. Eines der wenigen Dinge, die er
wirklich mit Leidenschaft tut. Manchmal hat sie den Eindruck,
er ist nur Wirtschaftswissenschaftler
geworden, weil er so gerne bezahlt. Eines Morgens hat er ihr einmal erklärt, warum
er sein Fach gewählt hat, aber schon kurz darauf hatte sie die Gründe wieder vergessen,
so wenig hatten sie sie überzeugt. Was einem einleuchtet, kann man sich auch merken.
»Gehen wir noch etwas trinken?«, hatte Wytse gefragt.
Nach
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