Mit Haut und Haaren
ordentlichen Rede ausarbeiten.
Ranzenhofer klappt das Notizbuch zu und nimmt sein Handy. Wenn er allein
ist, ohne Frau und Kinder, was nicht [301] oft vorkommt,
ruft er Lea vor dem Schlafengehen an. Um zu hören, wie
es den Kindern geht. Er ist vielleicht ein Mann ohne Ideen, doch wer seine Kinder
liebt, ist auf keine Ideen angewiesen.
Seine Schuhe hat er ausgezogen, jetzt entledigt er sich noch mühsam und
seufzend der Socken.
Er ist kurz davor, Leas Nummer zu wählen, überlegt es sich aber anders.
Gute Frau, prima Frau, auch ganz lieb, aber labil, findet
er. Zu depressiv. Er ist mit ihr verheiratet und wird das auch bleiben. Für die
Öffentlichkeit ist sie genau, was er braucht. Wenn sie
die richtigen Kleider anzieht und sich ein bisschen schminkt, wirkt sie ausgesprochen
repräsentativ, und sie ist intelligent. Doch er kennt sie, er weiß, was viele andere
nicht wissen: Sie ist labil. Nun ja, ein jeder hat so seine Fehler, keine Rose ohne
Dornen.
Oft steht ihm die Vision einer glücklichen
Familie vor Augen. Der Mensch muss das Rad nicht neu erfinden,
er muss auf dem schon Erfundenen aufbauen. Auch darum wird er mit Lea verheiratet
bleiben. Seine Vision ist mächtig. Doch im Moment hat er keine Lust, seine Frau
anzurufen, das Letzte, was er jetzt möchte, ist, ihre Stimme zu hören.
Seine Eltern schlafen schon. Die Krise macht ihnen zu schaffen. Die Banken haben die Kredite storniert, Kunden haben
aufgehört zu bezahlen. Nein, seine Eltern darf er auch nicht stören.
Er könnte Enrique anrufen. Das hat er seit ein paar Tagen nicht mehr
getan.
Enrique arbeitet für UPS .
Jason spielte gerade ein wenig an seinem PC ,
als Enrique [302] hereinkam, vor Wochen, Monaten schon, es kommt ihm vor wie eine Ewigkeit.
Das ist das Schöne am Rathaus von Brooklyn: keine übertriebenen Sicherheitsmaßnahmen,
informelle Atmosphäre, eigentlich kann jeder hereinspazieren. Er hat keinen Personenschutz,
er ist ein Bürgermeister zum Anfassen. Alle Brooklyner sollen ihn erreichen können.
Doch auch der Bezirksbürgermeister muss hin und wieder entspannen.
Seiner Karriere und seinen Kindern hat Jason immer die erste Priorität
eingeräumt. Karriere und Kinder gemeinsam an erster Stelle. Er wollte nicht der
Typ Vater sein, der seine Kinder vernachlässigt. Und er wusste, wie das System funktioniert,
dass, wer im System überleben will, sich zuallererst anpassen muss. Veränderungen
bewirkt man von innen.
Ohne anzuklopfen, war Enrique in sein Büro geplatzt.
Er bekommt jeden Tag Päckchen, manchmal gleich im Dutzend. Den Inhalt
bekommt er meist nicht zu sehen. Die Sekretärin nimmt alles entgegen. Ungefähr die
Hälfte landet sofort im Müll. Nun, vielleicht nicht ganz
die Hälfte, sagen wir: ein Viertel.
Die Sekretärin war gerade nicht da. Er hat insgesamt drei, aber alle
drei waren weg, und so stand auf einmal der UPS -Bote
vor ihm.
»Was machst du hier?«, hatte er fragen wollen.
Doch er war zu überrascht, er saß da in Strümpfen, hatte es sich gemütlich
gemacht. Unter dem Schreibtisch lagen irgendwo seine Schuhe, er angelte mit den
Füßen danach, aber ohne Erfolg.
[303] Die Bewegungen des Boten waren geschmeidig wie bei einer Katze. Er
hatte das Päckchen auf den Schreibtisch gelegt. Der Bürgermeister von Brooklyn mag
ja ein Bürgermeister zum Anfassen sein, aber wie lange kann es gutgehen, wenn jeder
ihm ungeprüft Päckchen auf den Schreibtisch legen kann
und man ihn mit Dingen zuschüttet, die er gar nicht verlangt hat?
»Ist das für mich?«, hatte er gerufen, während er mit den Füßen unter
dem Tisch weiter nach seinen Schuhen angelte. Die Schuhe waren neu und drückten.
Darum hatte er sie ausgezogen.
Eine dumme Frage natürlich, aber er hatte sich ertappt gefühlt, in Socken
an seinem Schreibtisch, während auf dem Bildschirm ein Computerspiel lief.
Der Bote hatte ihm nur einen Stift zum Unterschreiben
hingehalten und den elektronischen Quittungsblock.
Er sah den Boten an. Er hatte ein sanftes
Gesicht.
Normalerweise haben Boten graue Gesichter. Er mag sanfte Gesichter, Lea
ist eine gepflegte Frau, vielleicht sogar schön, nach
so vielen Jahren Ehe hat man keinen so richtigen Blick mehr dafür, aber sanft würde er ihr Gesicht nicht nennen. Sie hat einen reichlich
kastrierenden Blick.
Die Schönheit des Boten hatte ihn getroffen.
Die braune UPS -Uniform tat dem keinen Abbruch, sie
unterstrich diese Schönheit nur noch, auch wenn die Kluft ihm
zu groß war, ihm ganz offensichtlich nicht
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