Mit Herz und Skalpell
Schiebetüren. Auf jeder prangte eine Zahl. Linda entdeckte ihren Raum: Nummer vier.
»Linda?«
Sie wusste sofort, wer hinter ihr stand. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Dann drehte sie sich um. Sofort verfing sich ihr Blick in den braunen Augen – das Einzige in Alexandras Gesicht, das Haube und Mundschutz freigaben. Aber es war genug, um Linda fast um den Verstand zu bringen.
»Hast du alles gut gefunden?«, erkundigte sich Alexandra.
Linda nickte. Sie löste sich von den unwiderstehlichen Augen, und ihr Blick glitt weiter an Alexandra entlang. Das kurze OP-Hemd brachte deren durchtrainierte Oberarme besonders zur Geltung.
»Ich hätte dir gern alles gezeigt, aber die erste OP hat leider etwas länger gedauert.« Die kleinen Fältchen neben Alexandras Augen verrieten, dass sie lächelte.
»Kein Problem«, beeilte sich Linda zu versichern. »Ich war ja schon mal hier, im Praktischen Jahr.«
Sekundenschnell wechselte Alexandras Tonfall von freundlich zu professionell: »Hast du dich gut vorbereitet?«
Bei einem Patienten sollte ein Stück des Dickdarms entfernt werden, weil er dort eine Raumforderung hatte, von der man anhand der bisherigen Untersuchungen nicht sagen konnte, ob sie gutartig war oder nicht. Vielleicht war es auch Krebs. Den gesamten letzten Abend hatte Linda Bücher gewälzt, um nachzulesen, wie eine solche Operation funktionierte. Jetzt hatte sie zumindest das Gefühl, einen halbwegs guten Überblick zu haben.
»Ich denke schon«, beantwortete sie Alexandras Frage einigermaßen selbstbewusst.
»In Ordnung. Dann hilf bitte mit, den Patienten umzulagern. Die Anästhesie müsste ihn mittlerweile schlafen gelegt haben. Dann kannst du dich waschen. Ich komme sofort dazu.« Alexandra verschwand in Richtung Aufenthaltsraum. Wieder einmal bewunderte Linda ihre Haltung. Alexandras Gang wirkte nicht schlaksig wie bei vielen anderen mit ähnlich großem, schlankem Körperbau, sondern sehr grazil und elegant. Bewundernswert schön.
Linda riss sich von dem Anblick los und drückte auf den Knopf neben dem Eingang zum OP-Saal, so dass sich die schwere Tür automatisch öffnete. Dahinter lag der Raum, in dem die Narkose eingeleitet wurde. Linda stellte sich dem Anästhesisten vor. Er hieß Martin Säger.
»Du bist also die Neue von Alexandra?« Martin grinste breit.
»Ähm . . .« Linda räusperte sich. »Wenn man das so sagen kann.« Das konnte ja heiter werden. Alexandra schien tatsächlich einen gewissen Ruf zu haben, von dem alle wussten, nur Linda nicht.
»Lass dich nicht von ihr einschüchtern«, riet ihr Martin. »Der OP ist ihr Revier.«
Linda biss sich auf die Unterlippe. »Ich versuche es.« Ihre Aufregung wuchs.
»Wenn sie schreit, meint sie es nicht so. Meistens jedenfalls.« Der Anästhesist zwinkerte ihr zu.
Nachdem Linda sich auch beim restlichen OP-Personal vorgestellt hatte, lagerten sie den Patienten gemeinsam auf den Operationstisch um und brachten ihn in die richtige Position, damit alle ihre Plätze einnehmen konnten. Anschließend ging Linda in den kleinen Waschraum, in dem Alexandra bereits auf sie wartete.
»Weißt du noch, was du machen musst?«, fragte sie.
Linda lächelte. »Ja, das habe ich mittlerweile schon so oft gemacht.« Sie stellte den Wasserhahn an und wusch ihre Hände gründlich.
»Ist dir bestimmt in die Wiege gelegt worden.« Alexandra hob eine Augenbraue.
Linda brummte nur etwas Unverständliches, während sie sich die Hände abtrocknete.
»Du redest wohl nicht gern über deinen Vater?«, mutmaßte Alexandra und gab eine großzügige Portion Desinfektionsmittel auf ihre Hände.
»Stimmt«, erwiderte Linda knapp und bediente ebenfalls den Desinfektionsmittelspender mit dem Ellenbogen. Das Thema war damit für sie erledigt. Sie hatte es satt, immer mit ihrem Vater verglichen zu werden. Glücklicherweise fragte Alexandra auch nicht weiter.
Zurück im OP-Saal erhielten sie den sterilen Kittel und sterile Handschuhe. Alexandra ließ sich das Skalpell reichen und setzte es an.
»Weißt du, was wir hier für einen Schnitt machen?«, fragte sie Linda, während das Skalpell durch die Haut schnitt.
Lindas Herz klopfte schneller. Ihre Hände in den Handschuhen wurden feucht. Sie war darauf vorbereitet gewesen, von Alexandra geprüft zu werden, aber jetzt ergriff sie doch die Nervosität – oder was immer es war, das sie in Alexandras Gegenwart scheinbar unweigerlich überkam.
»Und?«, hakte Alexandra nach, als Linda keine Antwort gab.
Linda
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