Mit Jockl nach Santiago
dem Fluß. Ihre alten, dunklen Gemäuer halten ein Stück Vergangenheit am Leben, in dem sie sich vom übrigen Weltgeschehen scheinbar wie autarke Stadtstaaten abnabeln. Ein besonders gutes Beispiel hierfür lernen wir mit Chilhac kennen. Obwohl der Ort optisch in Reichweite, jenseits des Allier auf Basaltfels trutzt, braucht es eine drei Kilometer lange Anfahrt - im letzten Teil mäßig steil - um sich von Chilhacs Einmaligkeit zu überzeugen. Die säuberlich gemauerten Häuser stehen in engem Winkelwerk zueinander und in den schmalen Gäßchen glaubt man sich unter dem dunkelgrauen Himmel bereits in die Abenddämmerung versetzt. Hinter einem Fenster brennt sogar Licht, und neugierige Gesichter spähen zu uns heraus, als wir mit dem Jockl über das Steinpflaster rumpeln und die Dorfruhe stören. Schon beginnt’s auch wieder zu regnen - das Strichweise ist jetzt dran - doch dies schmälert oder verdirbt die Faszination des Ortes keinesfalls.
Vermummt kehren wir auf die andere Talseite zurück. Beständiger, kalter Wind setzt uns entgegen und unsere Wärmereserven beziehen wir bald nur mehr aus Gedanken an Spaniens Hitze. In Lavoûte-Chilhac verlangen unsere durchgefrorenen Körper eine längere Pause. Wenn es nur eine Spur wärmer wäre oder weniger windig, gäbe der traumhaft in einer Flußschleife des Allier gelegene Ort mit seinem leider restaurierungsbedürftigen Kloster genügend Grund für ein ausgedehntes Verweilen. Aber unter diesen Umständen läßt mich alles im wahrsten Sinne des Wortes kalt. Ich friere wie ein geschorenes Schaf, das von Knecht Ruprecht - Wolfgang mit roter Nase und Wallebart - in einen Turm geführt wird, in dem im Erdgeschoß eine Bar Wärme verspricht - und nicht hält. Wie zwei zu Wasser und Brot Verurteilte hocken wir armselig zwischen grobgemauerten Verlieswänden in einer halben Finsternis, die dampfenden Tassen fest umklammert, als würde man sie uns gleich entreißen wollen. Der einzige Gast außer uns schäkert mit der attraktiv-burschikosen Mademoiselle hinter dem Tresen; seinem sichtlichen Begehren nach zu urteilen, dürfte ihm nicht kalt sein.
»Do is’s wia in am K-K-Keaka, findst net?« stammle ich zwischen zwei Schlucken hervor.
»Do riachts noch Lebakäs!« bekomme ich zur Antwort.
»Noch Lebakäs? Do nachts doch net noch Lebakäs!« entgegne ich verwundert.
»Scho, scho, iagndwo gibts do an Lebakäs!« Wolfgang läßt sich nicht davon abbringen. Im Gegenteil, er strafft seinen Körper und beginnt nach allen Richtungen herumzuschnuppern.
»Wea woaß, ob de Franzosn an Lebakäs übahaupt kennan?«
»Des woaß i a net, oba do herin gibts bestimmt oan. I riachs doch. Du net?«
»Na!« gebe ich überzeugt zurück, dabei mustere ich Wolfgang eingehend und überlege, welchen Ernährungsentbehrungen er in der letzten Zeit ausgesetzt war, deren Auswirkungen ihn mit derartigen Geruchsphantasien heimsuchen. Vermutlich tragen die Ölsardinen Schuld daran: Nahezu 100 Dosen Ölsardinen bleiben auf Dauer eben nicht ohne Folgen. Ich schlage vor zu gehen, denn wärmer wird uns nicht und die gruftige Atmosphäre tut ein übriges.
»Schod, do hots so guat noch Lebakäs grochn. De hättn sicha oan ghobt. Mia hättn zumindest danoch frogn kenna, ha?!« - Wolfgangs Gebenze drängt mich unversehens in die Rolle einer gestrengen Mutter, die auf die Bitten ihres Sprößlings nicht eingeht. Im nächsten Supermarkt nehme ich mir vor, ihn zur Neubestückung seines Speisezettels zu verleiten - vielleicht mit Hering oder Thunfisch.
Der Regen hat zugunsten feinen Nieselstaubes nachgelassen. Diese naßkalte Witterung und die wie britische Cottages anmutenden Häuser entlang der restlichen Strecke durch das Tal erinnern immer wieder an Urlaubstage in Cornwall und Wales. Bei Vieille-Brioude mündet die Straße nach einem Anstieg in die von Le Puy kommende N102. Gleichzeitig setzt der Allier seinen Lauf nun mehr in beträchtlichem Abstand zur Straße nach Norden fort. Als wir praktisch aus dem eingenieselten, eingetrübten Tal auftauchen, verblüfft uns ein geradezu lichter Horizont mit der altvertrauten Silhouette des Puy-de-Dome. Sein Anblick verdeutlicht einmal mehr das sich abzeichnende Ende unserer Reise. Die vier Kilometer nach Brioude bringen wir ziemlich rasch hinter uns, kaufen dort ein und ziehen uns ohne weitere Kontaktaufnahme mit der Stadt auf einen entlegenen Campingplatz am Allier zurück. Erst unter einer heißen Dusche - eine Wonne, mit der nicht jeder Campingplatz verwöhnt -
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