Mit Jockl nach Santiago
weiteres unauffindbar.
Dem gedämpft mystischen Raunen Saint-Juliens entschwebend, gestaltet sich die Rückkehr ans Tageslicht um so irdischer. War es gestern die Sonntagslangeweile, so ist es heute die landesweite Montagslethargie, die, mit Ausnahme der Großstädte Geschäft und Gesellschaft zu strikt verordneter Ruhe und Trägheit verklebt. Brioude macht da keine Ausnahme, so trauern wir der Stadt auch nicht nach, als wir ihr in östlicher Richtung nach La Chaise-Dieu den Rücken kehren.
Wir überqueren den Allier, und schon eine Stunde später nach der Ortschaft Javaugues verschwinden wir in den dichten Wäldern des Forez-Regionalparks, eine bergige, dünnbesiedelte Gegend. Die kilometerlange Fahrt im Schatten der Wälder läßt uns die Gänsehaut rauf- und runterlaufen. Erst im Fünf-Häuser-Nest La Vernede winkt uns ein Café an der Straße mit Stühlen in der Sonne zu einer Pause heran. Zu spät bemerken wir die allgemeine Verlotterung unserer ausgewählten Niederlassung. Der Kaffee ist bereits bestellt bei einer Person, die nicht minder verwahrlost dreinschaut. Als sie uns drei statt zwei Tassen Kaffee serviert, schließen wir auch andere Mängel nicht ganz aus. Auf den Kaffees schwimmen dicke Fettaugen, die jeder besseren Rindsuppe Konkurrenz machen, und die Tassen zieren blaßgelbe Spuren eingetrockneter Milch und kaffeebraune Trinkränder ein oder mehrerer Vorbenützer. Die einst weißen Plastikstühle starren vor Dreck, als wäre die Federviehbelegschaft einer ganzen Hühnerfarm darübergezogen. Eine Meute Hunde trabt um uns herum, jeder von ihnen Stützpunkt einer ganzen Flohinfanterie. Beständig kratzen sie sich und nagen mit zu Falten gerunzelten Schnauzen in ihren malträtierten Bälgern herum. Nach all dem erstaunt uns die an der Fassade prangende Aufschrift »HÔTEL« um so mehr. Die Zimmer möchte ich nicht einmal ansehen müssen, geschweige denn eine Nacht darin verbringen und wenn, dann nur im Vollrausch. Die Rechnung für die kaum konsumierte Brühe betrachten wir als ein Entgelt für das Sitzen in der Sonne. Wenigstens konnten wir ausreichend Wärme tanken, um die nächsten 18 Kilometer nach La Chaise-Dieu bestens zu überstehen.
Nach der Hälfte der Strecke, als uns die Wälder in lichtere Gefilde entlassen, fallt der Blick zum erstenmal auf einen behäbigen, doppeltürmigen Bau: das Kloster La Chaise-Dieu, von uns beiden Sprachdilettanten zu einem unwürdigen »Scheiß Djö« verunglimpft. Seine Berühmtheit verdankt das Kloster einer reichen wie wechselvollen Vergangenheit aus Macht, Ruhm und Zerstörung. Zu seinen besten Zeiten zählte La Chaise-Dieu über 300 Mönche, darüber hinaus unterstanden ihm hunderte Prioreien in Frankreich, Italien und Spanien als Besitzungen. Beim Lesen der Klostergeschichte gerät man schnell in Begeisterung, die jedoch an der schwerfälligen, grauen Fassade der Abtei abrupt zerschellt - sie wirkt wie ihre Umgebung rauh und wenig einladend. Die gotische Leichtigkeit ihres Inneren stimmt uns zwar versöhnlich, doch eindeutig zu wenig, um noch Zeit für die Schätze der Kirche - 25 flämische Tapisserien und das 26m lange »Totentanzfresko« aus dem 15. Jahrhundert - zu erübrigen.
So flüchtig unser Besuch, so wenig nachhaltig der Eindruck von La Chaise-Dieu. Weitaus mehr Interesse bringen wir knapp 500 m tiefer und 13 Kilometer weiter Arlane entgegen, einer kleinen Marktgemeinde im Dore-Tal. Hier entführt uns das mustergültige Musée de la Dentelle a la main noch einmal in die Welt der Spitzenklöppelei. In mehreren Räumen mit einer Fülle an Spitzenwerken im wörtlichen wie im übertragenen Sinn kann man sich lange Zeit in zarte Träume aus Schleier, Schultertücher, Hochzeits- und Abendkleider, Spitzenhäubchen, Taufkleider und herrlichsten Bordüren einklöppeln lassen. Ein Video sowie eine Live-Vorführung am Klöppelkissen vervollständigen schließlich noch in anschaulicher Weise die Information über dieses traditionsreiche Frauenhandwerk.
In Arlane, am Ufer des kleinen Flusses Dolore unterhalb des Ortes, gehen wir für heute vor Anker. Die Rezeption des Campingplatzes ist wie auf vielen Plätzen um diese Jahreszeit nicht mehr besetzt. Meist kommt am späteren Abend oder frühen Morgen jemand, um bei den paar anwesenden Gästen die Gebühren zu kassieren. Das Übernachten auf Campingplätzen wächst sich für uns mehr und mehr zum Problem aus, seit mit Ende August die ersten Plätze zu schließen begannen. Jetzt, also Mitte September, folgt der
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