Mit Jockl nach Santiago
Bilderbuchanblick einer kleinen Häuserschaft rund um die Abtei von Lavaudieu. Das Dorf kuschelt sich zwischen die Hänge des Tales und in seiner verletzlichen Lieblichkeit möchte man es beschützen oder mit Riesenhänden sozusagen aus seinem Nest heben, um sich an der köstlichen Miniatur zu freuen. Je mehr man sich dem Ort nähert, um so deutlicher tritt jedoch die Stattlichkeit des Klosters zutage. Erst im Dorf selbst stellt sich die überschaubare Kleinheit wieder ein, wenn man am Hauptplatz stehend, in die Runde einiger alter Häuser blickt, dazwischen die Fassade der Abteikirche mit ihrem zweistöckigen, fensterdurchbrochenen Vierungsturm. Das Kloster besitzt herrliche romanische Fresken, die erst vor rund 30 Jahren wiederentdeckt wurden, außerdem den einzig erhalten gebliebenen romanischen Kreuzgang der Auvergne, ein ausgesprochenes Kleinod mit ungewöhnlich fantasievollen Säulenformen. Außer einigen Touristen sieht man niemand des Weges, und fast glaubt man sich in einem Freilichtmuseum, so geputzt und zurechtgerichtet präsentiert sich Lavaudieu. In einem Reiseführer wurde der Ort als malerisch verkommen beschrieben. Malerisch bestimmt und verkommen vielleicht noch vor einigen Jahren. Hingegen verkommen Wolfgang und ich an diesem Nachmittag bald zu zwei Eisheiligen, dabei steht uns die Rückfahrt nach Brioude noch bevor, die wir um so frostiger empfinden, als wir seit dem frühen Morgen nahezu erfolglos gegen die Kälte ankämpfen.
Zurück in Brioude, retten wir uns zum vorübergehenden Aufwärmen in das Lachs-Museum, daran anschließend sofort in das Klöppelspitzen-Museum. Letzteres, das Musée de la Dentelle, verdient besondere Erwähnung. Es befindet sich in einem respektablen, vornehmen Stadthaus und gibt in der Fülle seiner Exponate einen aufschlußreichen Einblick in die Kunst des Spitzenklöppelns, nicht nur was die Tradition des Gewerbes betrifft, sondern auch welch feine Schleiergespinste von geradezu technischer Präzision fingerfertige Hände zustande brachten, darunter wahre Gemälde an Fadenverflechtungen von unglaublicher Kreativität. Wirklich eine Offenbahrung an Ornamenten und Handwerkskunst.
Die letzte Offenbahrung des Tages erfahren wir unter der heißen Dusche. Auch das ist unglaublich, wenn man sich selbst wieder zu spüren bekommt.
4°C am Morgen! Nicht schlecht, wenn das so weitergeht, kratzen wir in dieser Novemberkälte übermorgen den Frost vom Jockl und löffeln zum Frühstück Eiskaffee. Gott sei Dank bricht mitten im Morgennebel die Sonne durch und vertagt weitere Befürchtungen schnell.
Gleißendes Sonnenlicht fällt an diesem Vormittag auch durch die Fenster der Basilika von Brioude und durchflutet ihre breiten Schiffe, deren dunkelste Winkel allerdings davon ausgespart bleiben. Wer beim Eintritt in die Basilika nicht auf die Pracht ihrer Fresken vorbereitet ist, den setzen sie erst einmal schachmatt - so wie mich. Das heißt, sie sind mir sehr wohl von Abbildungen her bekannt, aber die geben nur einen schalen Abklatsch dessen wider, was das Auge in Wirklichkeit vor Vergnügen Pirouetten drehen läßt. Meine Vorliebe für Fresken hält sich für gewöhnlich in Grenzen, doch jene von Saint-Julien vereinnahmen jeden bereits beim ersten Blick an die Decke der Vorhalle. Daß es sich bei den Darstellungen um religiöse Themen handelt, nehme ich an, wird mir aber nicht sogleich bewußt, denn ich sehe nur Farben, aber welche! Farben von einer Sattheit, als ob sie gestern erst aufgetragen worden wären! Wie hypnotisiert stolpere ich zum Auftakt gleich über meine eigenen Füße ein paar Stufen hinunter und gerate dabei so richtig in Schwung, um gegen ein steinmassives Eck zu knallen, dessen Bekanntschaft ich meinem Schädel nur mit gezielten Verrenkungen ersparen kann. Nach der kleinen akrobatischen Einlage genieße ich, über wunderbare Kieselmosaike schreitend, erst recht das Leuchten der Fresken an Decken, Wänden und Säulen, darunter ein Großteil mit ornamentaler Bemalung und bewundere auf romanischen Halbsäulen motivreiche Kapitelle von höchster Steinmetzkunst. Nicht zu vergessen die erhabene Wirkung eines übermächtigen Innenraumes mit einer Länge von 74 m, mit dem die Basilika von Brioude zu jenen Bauwerken gehört, für die man sich eingehend Zeit nehmen sollte. Eigentlich ein unnötiger Hinweis, denn wer ihre geheiligten Hallen betreten hat, vergißt ohnedies auf die Uhr zu schauen. Wolfgang haben die Wände scheinbar schon verschluckt, er bleibt bis auf
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