Mit Jockl nach Santiago
Städtchen Thann nicht mehr die angemessene Aufmerksamkeit schenken können. Sträflich wäre allerdings die kathedralenartige Kollegiatskirche Saint-Thiébault einer hausgemachten Eile zu opfern. Das prächtigste Schmuckstück der Stadt mit seinem bunten Ziegeldach verfuhrt einfach zum Näherkommen, und steht man vor der eindrucksvollen gotischen Fassade, so hat einen die Neugier schon am Kragen, und man muß das Innere betreten. Wolfgang und ich kennen das eintürmige Bauwerk bereits von einem früheren Besuch. Das Wiedersehen löst jedoch dieselbe Freude aus wie damals.
Alsdann wird es wieder ernst, und unter blauem Himmel geht die Fahrt ungebremst über Hügel und Senken nach Guewenheim und von dort auf der D2 über Rougemont-le-Château nach Giromagny. Die Luft hat sich soweit erwärmt, daß man es trotz Fahrtwind noch als angenehm empfindet. Kaum ein überholendes Auto belästigt uns oder drängelt halbe Ewigkeiten hinter uns her, und Jockls Bürzel genießt freie Sicht. Schwarz-weiß-gescheckte Kühe grasen auf dem Sattgrün beiderseits der Straße. Gelegentlich erheben sich Störche oder auch Graureiher, von Jockl Knattertönen in ihrer Ruhe gestört, in die Lüfte. Die Ortschaften dösen in einer fast spanisch anmutenden Siesta in den Nachmittag hinein, und selten bringt eine Menschenseele Bewegung ins reglose Bild. Selbst einige Dorfbewohner, in ihren Gärten oder hinter geöffneten Fenstern sitzend, scheinen wie im Dornröschenschlaf erstarrt; nur ein zum Gruß angedeutetes Nicken und eine wahre Zeitlupendrehung ihrer Köpfe, um uns verwundert nachzuschauen, läßt auf ihre Lebendigkeit schließen. Auch von uns beiden hat eine stoische Ruhe Besitz ergriffen. Die Gedanken schwimmen, zu einer undefinierbaren Suppe vermengt, durch den Kopf, und fast kostet es Überwindung da und dort den Arm zu heben, um den anderen auf eine ungewöhnliche Baumform, eine eigenwillige Dachkonstruktion oder die märchenhafte Buntheit einer Blumenwiese aufmerksam zu machen. In Giromagny, einem ausgedehnten hübschen Ort, pulsiert dann endlich wieder etwas geschäftiger Alltag. Außerhalb davon legen wir an einem Bach eine längere Sandwichpause ein, studieren die Landkarte und stellen dabei fest, daß Elsass seit einer guten Stunde bereits unserer Reise-Vergangenheit angehört. Ein taxierender Rundumblick - nach elsässischen Fachwerkidyllen wird man umsonst Ausschau halten bestätigt die Grenze auf der Landkarte; wir befinden uns mittlerweile in der Region Franche-Comté.
Zwölf Kilometer weiter beenden wir an einem See am Ortsausgang von Champagney unsere Tour-de-Jacques-Etappe. Dort macht sich Wolfgang sofort über die Montage der Rundumblinkleuchte her. Mit viel Geduld, wenig geeignetem Werkzeug und jeder Menge Improvisierlust verpasst er dem Jockl auf der Lehne der Rückbank die blinkende Beule, die uns ab sofort wie ein Schneeräumkommando auftreten läßt.
Ein sonniger Morgen beendet die kalte Nacht, und erst ein heißer Kaffee und rührige Räumereien verhelfen uns zu einem vagen Gefühl von Wärme. »Bonjour, mon petit Jacques!« flöte ich unserem eicher-blauen Reisegespons entgegen, als würde er mir gleich wie ein anhängliches Schoßhündchen schwanzwedelnd an den Beinen hochspringen. »Des is koa Franzos!« ereilt mich postwendend die Belehrung aus dem Zelt. »No donn ebm net!«
Gleich heute Vormittag werden wir uns statt eines Frühstücks einen architektonischen Leckerbissen vergönnen. Dazu fahren wir ins nahe Ronchamp. Eingeweihte wissen, worauf ich anspiele. Schon von weitem blitzen die weißen Mauern der Kapelle von Notre-Dame-du-Haut ins Tal. Wie ein außerirdisches Flugobjekt parkt das Meisterwerk des Architekten Le Corbusier auf einer steilen Anhöhe über dem Ort Ronchamp. Auch als Nicht-Freunde architektonischer Spitzfindigkeiten des 20. Jahrhunderts hält uns der eigenwillige Bau in Bann. Jeder Schritt rund um das Werk vermittelt eine gänzlich neue und verblüffende Ansicht. Jeder Blickwinkel ruft eine andere Wirkung hervor. Für mich verkörpert es eine seltene Synthese von Harmonie und Asymmetrie. Allein die ausladende und doch so kompakte Dachkonstruktion, die man laienhaft ohne weiteres mit einer durchhängenden Zeltplane vergleichen könnte, kostet Wolfgang etliche Bilder. Nicht viele Bauwerke der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts - die Kapelle wurde 1955 erbaut - besitzen eine solch gewinnende, ja faszinierende Ausstrahlung und stehen obendrein noch inmitten eines wunderbaren
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