Mit Jockl nach Santiago
die Weiterfahrt findet bei zunehmendem Sonnenschein statt. Weite Mohnblumenfelder knallen ihr feuriges Rot gegen einen blau-weißen Himmel. Reiche Baumbestände und Heckenwälle zwischen den Feldern erinnern uns unweigerlich an Landschaften in Wales.
Semur-en-Auxois heißt unser nächster Halt. Hoch auf einem Felssockel in einer Schleife des Armançon gelegen, bietet sie, was ihr majestätisches Stadtbild schon von weitem verspricht: dicke Türme und Mauern einer Zitadelle, eine stattliche, das malerische Semur überragende Kathedrale und eine intim wirkende Altstadt mit mittelalterlichem Gepräge. Unter erneut eingrauendem Himmel und anständigen Windböen stelzen wir, gänsehautgebeutelt, durch die Stadt. Irgendwie ist’s ungemütlich, auch in der schummrig-miefigen Bar, die wir zwecks Aufwärmung kurzfristig belagern.
Nichts wie weg! Stadtauswärts über die Brücke des Armançon suchen wir sowohl das Weite als auch ein bißchen Wärme und geraten dabei über die Ortschaften Epoisses, Toutry und Guillon bis nach Montreal. Ja, so schnell kommt man in Frankreich nach Kanada; auch eine gewisse kanadische Kälte spricht für den prompten Kontinentewechsel. In Wirklichkeit befinden wir uns laut Kulturführer in einem der schönsten Burgstädtchen Burgunds. Zugegeben, das Dörfchen mit seiner turmlosen, trutzigen Kollegiatskirche aus dem 12. Jahrhundert auf der Spitze eines Hügels begeistert uns mit seiner mittelalterlichen Gassenstruktur, einer aus Stein gemauerten Vergangenheit, doch im Gegensatz zu Flavigny fehlen hier die Spuren von Leben. Fast vermutet man hier eine Wochenendsiedlung Alt- und Neureicher, und irgendwo verbirgt sich sicher eine Putzkolonne auf Abruf, die während der Woche jeden Stein und jede Zaunlatte schrubbt. Da und dort parken Rover oder Mercedes vor den Haustüren, und eine gärtnergetrimmte Blumenpracht ziert die Fassaden. Weder Geschäfte noch irgendwelche Hinweise eines praktizierten Alltags lockern das Straßenbild auf - kurz und gut der Ort ist seiner Urbestimmung entledigt - tot! Seine Existenz beruht nunmehr auf der einer glanzgeleckten Attrappe für relaxende Business-Familien und fehlgeleiteter Touristen auf der Suche nach Ursprünglichem. Schade drum! Während Wolfgang die langen, schmalen Gassen zur Ortseinfahrt runterrumpelt, lege ich die paar Meter zu Fuß zurück um meine Bandscheiben nicht über die Maßen zu strapazieren. Unten angekommen, fallen die ersten Tropfen. Jetzt aber nicht mehr lange gefackelt und Gas gegeben.
Die vermeintliche Rettung vor einem Regenersäufnis erhoffen wir uns im neun Kilometer entfernten l’Isle-sur-Serein. Doch Pech! Der dortige Campingplatz öffnet erst morgen, und so wenden wir uns an die Polizei mit der Bitte, auf einem Stück Brachland neben dem Campingplatz unser Zelt für eine Nacht ins Gras pflanzen zu dürfen - das wird nicht genehmigt. Das einzige Hotel im Ort hat zwar ganzjährig geöffnet, nur an Sonntagen geschlossen - und heute ist Sonntag, wie erbaulich. Wie arme Sünder trotten wir unverrichteter Dinge zum Jockl zurück und entschließen uns nach kurzer Beratung, trotz inzwischen heftigsten Regens, nach Avallon weiterzufahren. Ganze 15 Kilometer, umgerechnet eine gute Stunde, denn die Straße strotzt vor Hügeln und Löcher, kämpfen wir uns durch himmlische Ergüsse. Kurz nach 20.00 Uhr passieren wir endlich das Ortsschild von Avallon. Gleich im erstbesten Hotel an der Straße quartieren wir uns tropfnaß ein - eine gar üble Absteige, die uns wahrlich nicht zum Verweilen einlädt. So verbringen wir den angebrochenen Abend in einer Pizzeria mit anschließendem nächtlichen Spaziergang durch die lichterspiegelnden Pfützen der Straßen. Leicht angeheitert - eine Karaffe Wein verhalf uns angenehmerweise dazu - steigen wir schließlich in unsere Lotter-Suite hinauf und begrüßen den Morgen vor der Glotze im Kreis einiger leergefutterter Kekspackungen.
Die zum Fürchten grantige Madame des Hauses würdigt uns keines Blickes, als wir uns mit unseren Packen das schmale Stiegenhaus hinunterzwängen und beim Dienstboteneingang zum Hinterhof hinausschleichen. Endlich frische Luft und endlich wieder bei unserem Jockl, der mit seiner Motorhaube wie ein angeleinter Gaul unter einer Holzarkade steht; dort satteln wir ihn und reiten in die Stadt. Ein paar vereinzelte Regenschauer tun unserem Besichtigungselan keinen Abbruch, und so strolchen wir planlos, doch interessiert durch die Straßen. Bei Tag besehen, wirkt Avallon genauso
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