Mit Jockl nach Santiago
angenehm wie schon abends zuvor: ein bißchen verschlafen und vergessen auf einem Felssockel oberhalb des Flusses Cousin liegend, mit viel alter Bausubstanz, einigem schönen Fachwerk, einem Stadtturm und der sehr eigenwilligen Kollegiatskirche Saint-Lazare am Rande des Felsabbruchs. So sehr mit Schauen und Stolpern über die Unebenheiten des Steinpflasters beschäftigt, registrieren wir auch nicht sofort, daß wir beide wiederum Objekte einer Beobachtung sind, die schließlich in einer Seitenstraße Aufklärung findet. Wir hätten uns eigentlich schon einen Reim daraufmachen können, denn vor dem Vauban-Denkmal parkt, gut sichtbar wie ein Lockvogel, unser Jockl. Ein Reporter der lokalen Presse hat ihn dort stehen sehen, vor die Linse genommen und fahndet seither nach seinem Besitzer. Mehrmals kreuzte der nervöse Typ mit seiner schweren Fototasche unsere Wege durch die Stadt, und immer fiel er uns wegen seines für einen Touristen etwas zu hektischen Gang auf. Als wir eben aus einem Geschäft treten, steuert er geradewegs auf uns zu und spricht uns an. Noch an Ort und Stelle liefern wir unser zweites Interview, zu dem er sich letztendlich auch noch einige Traktorfotos samt Lenker und Sozia wünscht. Also müssen wir zurück und Jockl in eine fotogene Position bringen, für welche uns der dienstbeflissene Herr auch genaue Anweisungen erteilt. »Jo Kreizkruzifufzen«, wie vorprogrammiert, springt Jockl gerade jetzt nicht an, und wir müssen ihm mit ein paar Starthilfeschlägen zu Leibe rücken. Daß uns dies in der Öffentlichkeit natürlich nicht unbedingt als sensible Fahrzeughalter ausweist, lesen wir in den entsetzten Blicken unseres Fotografen. Aber das kann uns egal sein, denn wir nützen den laufenden Motor und ergreifen nach dem Fototermin gleich die Möglichkeit der Abreise.
Nur 13 Kilometer beträgt unsere heutige Tagesetappe - Vézelay steht an ihrem Ende. Bereits zirka vier Kilometer davor werden die imposanten Ausmaße der Sainte-Madeleine-Basilika von Vézelay erahnbar. Wir halten kurz und genießen den freien Blick hinüber zu einem Höhenrücken, auf dem der Ort seit Jahrhunderten seine Pilgerscharen erwartet. Er bildet einen Schwerpunkt auf unserer Reise, nicht so sehr aus kunstgeschichtlicher Sichtweise als aus einem historischem Beweggrund, denn im Mittelalter gehörte Vézelay, als ab dem 10. Jahrhundert die Jakobspilgerschaft nach Santiago de Compostela einen Höhepunkt erreichte, neben Paris, Le Puy und Arles zu einem der vier Sammelpunkte für Pilgerströme aus ganz Europa. Immer nur von diesem einen »Jakobsweg« zu sprechen, geht an der Realität vorbei. Jede Pilgerschaft nimmt ja bekanntlich vor der eigenen Haustür ihren Anfang, und es gab und gibt so viele Pilgerwege wie an verschiedenen Orten wohnende Menschen, die sich zu einer Pilgerfahrt aufmachen. Vézelay war nur eine unter vielen Stationen auf dieser langen Wanderung, wenn auch eine sehr bedeutungsvolle. So vereinte sie einen Teil der aus aller Herren Länder kommenden Pfade zu einem der vier Hauptrouten, auf denen die Pilger zum eigenen Schutz gegen Überfälle meist in größeren Gruppen gegen die Pyrenäen marschierten. Erst jenseits des Gebirges, auf spanischem Boden, kristallisierte sich jene Route zum Jakobsweg heraus, wie sie heute in einschlägiger Reiseliteratur beschrieben steht, obwohl auch der spanische Jakobsweg eine weniger bekannte Wegvariante entlang der kantabrischen Küste kennt. Leicht vorzustellen, daß sich entlang dieser über Jahrhunderte frequentierten Routen eine neue soziale wie kulturelle Atmosphäre entspann, die nicht nur im Entstehen von Kirchen und Spitälern, Herbergen, Gasthöfen und Werkstätten deutlich wurde, sondern auch Einfluß auf Musik, Dichtung und Sprache nahm. Sich ernsthaft mit der Jakobsverehrung und der daraus resultierenden Pilgerschaft auseinanderzusetzen, heißt nicht nur Kirchen und Klöster zu besuchen, sondern sich auf ein umfassendes Wissensgebiet einzulassen, das mit Sicherheit zu einem der interessantesten und aufschlußreichsten der europäischen Geschichte zählt. Da stehen wir nun vis-á-vis von Vézelay wie vielleicht schon Abertausende vor uns. Was hat sich hier einst wohl alles abgespielt, wovon wir heute keine Ahnung mehr haben können. Eine Lerche erhebt sich trällernd gegen den grauen Himmel und zerstört auf herrlichste Weise die Lautlosigkeit dieser Minuten und erinnert, daß allein ihr Gesang die Jahrhunderte unverändert überdauerte. In Anbetracht der kalten
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