Mit Jockl nach Santiago
Zehen sparen wir uns aber jedes weitere philosophische Gesülze und werfen lieber wieder den Jockl an.
In Saint Pere-sous-Vézelay, zwei Kilometer unterhalb von Vézelay richten wir uns am örtlichen Camp gegenüber einer Gruppe holländischer Fahrrad-Pilger häuslich ein. Alsdann widmen wir uns einem ausgedehnten Besichtigungsprogramm, das wir, wie sich im nachhinein rausstellen wird, zufälligerweise gleich mit dem Besten beginnen. Das kleine Dorf Saint Père, als malerisch und idyllisch beschrieben - unaufgeräumt würde ich es nennen -, darf einen wahren Schatz sein eigen nennen: Notre-Dame, eine gotische Kirche von herausragender Schönheit - eine Miniaturkathedrale - mit allem geschmückt, was burgundische Steinmetzkunst dieser Zeit zu bieten hatte. Am besten umschreibt man seine eigene Empfindung mit Sprachlosigkeit, wenn man, die zwischen Dorfhäusern ziemlich eingeengte, Kirche mit ihrem großartigen, gestaffelten Glockenturm umrundet. Völlig zu Unrecht steht dieses, leider auch noch geschlossene Meisterwerk, im Schatten der großen Basilika von Vézelay.
Ein Besuch von Vézelay hingegen beginnt mit der Erkenntnis: Je höher die Anzahl der Souvenirläden, desto höher der touristische Stellenwert eines Ortes. Und so beginnen wir einen wahren Kreuzweg durch die Hauptstraße, wo Busladungen Touristen einem gemeinsamen Bummeln hinderlich sind, das heißt, man bummelt am besten getrennt. Eine Allee des Konsums heißt uns willkommen, in denen Galerien den Werbefahrten-Kunstliebhabern verwässerte Vézelay-Landschaften und japanische Pinselbilder unterjubeln, Wälder von Ansichtskartenständern das Straßenbild prägen wie anderswo gußeiserne Laternen, Boutiquen lächerliche Fetzchen zu wenig lächerlichen Preisen anbieten, sogenannte Kunst-Werkstätten Kindergartenkram produzieren... krieg ich jetzt einen Tritt vom Fremdenverkehrsverein? Aber ist es nicht vielfach so, daß Völkerwanderungen von Touristen in dafür prädestinierte Orte einfallen - vorgeblich um der Kunst willen - und ausgerechnet dieser Anlass ihres Besuches vor Ort im Trubel unverzichtbarer touristischer Konsumaktivitäten an Wichtigkeit verliert, gleichsam aus ihrem Fadenkreuz fällt. Ich sehe Leute zwei Minuten in der Basilika herumlatschen und vielleicht einen halben Nachmittag in Cafés rumsitzen oder vom Boutiquen-Hoping in Anspruch genommen. Die Wertigkeiten haben sich verschoben, und Vézelay bietet ein ideales Beispiel dafür. Die letzten Andenkenläden und Kunsthandwerksbetriebe hinter uns gelassen, stehen wir endlich vor dem Portal von Sainte-Madeleine. Rundum besehen, ein Bau von enormer Größe und dazu ellenlang, kantig und klotzig, doch innen überrascht sie mit einer hellen, luftigen Höhe, einer klaren Gliederung ohne viel Zierrat und einer beeindruckenden Räumlichkeit. Vom romanischen und gotischen Ursprung der Basilika blieb nach Bürgerkriegen und den Jahren der Revolution nicht mehr viel übrig. Ein Blitzschlag im 19. Jahrhundert lieferte das einst monumentale Bauwerk fast gänzlich der Verwüstung aus, ehe man sich seiner großen Vergangenheit besann und mit einer umfassenden Restaurierung begann. Der wiederauferstandene Glanz Sainte-Madeleines zeigt sich in einem herrlichen Tympanon und einer Reihe hervorragender Kapitelle in Narthex (Vorhalle), Hauptschiff und Chorumgang. Den Reiz erhöhen die abwechselnd rotbraun und weiß gesetzten Steine in den Gewölbebögen des Langhauses. Und wieder bewahrheitet sich, daß weniger mehr ist und zeigt, daß auch schnörkellose Geometrie bezaubern kann.
Den Kunstgenuß - zugegeben, nicht jener, den uns Saint Père bot - runden wir mit einem Kaffee-Kuchen-Schnellimbiß in einer überfüllten Bäckerei ab. Anschließend wandern wir die Ansichtskartenständerallee hinunter, wo am Ende der Rennmeile unser Jockl wartet, heute wahrscheinlich die zweitwichtigste Sehenswürdigkeit von Vézelay.
V. Grüne Vulkane - weiße Pyrenäengipfel!
Rund 102 Fahrstunden: Bourgogne - Auvergne - Limousin - Midi-Pyrénées
Auch diese Nacht opfern wir zum Teil der Schlaflosigkeit, indem wir den mitternächtlichen, lautstarken Streitereien eines uneinigen Pärchens lauschen, das heißt, die gesamten Campbewohner werden akustische Zeugen geradezu hysterischer Attacken, mit denen sich Frau und Mann bombardieren. Während der stundenlangen Schimpfkanonade ist die Stimmung hochexplosiv gespannt, und eigentlich warten wahrscheinlich alle Horchenden nur noch auf das Klatschen einer
Weitere Kostenlose Bücher