Mit Jockl nach Santiago
Trägerinnen warten. Büstenhalter von mehreren Litern Fassungsvermögen schaukeln selbstbewußt im Nieselwind, ebenso das unvermeidlichste Kleidungsstück aller Wochen- und Kirchweihmärkte: die geblümelte Kittelschürze. Eine ganze Allee dieser zu weiblichen Formen ausgestopften Vertreter hausfraulicher Kompetenz säumt einen schmalen Gang zwischen den Ständen. Karamellen, Gummibärchen, saure Drops, Pralinen und alles, was süß und klebrig schmeckt, findet Abnehmer; ebenso Al Bano und Romina Power. Deren Pop-Duett aus einem CD-Player mischt die Geräuschkulisse mit betont südländischer Note auf. Dazu liefert frischer Fisch das passende Hafenfluidum, um kurz in italienischen Küstenimpressionen zu schwelgen. Im Café schräg gegenüber dem Hotel de Ville schälen wir uns umständlich aus unseren Regenmonturen und genießen bei heißem Milchkaffee das französische Savoir-vivre. Pensionsbetagte Herren sitzen da bereits vormittags in philosophischer Eintracht zwischen Rauchschwaden und Bardunst bei einem Glas Wein. Baskenmützen auf den greisen Häuptern weisen sie als echte Söhne der »Grande Nation« aus, und ihre zahlreiche Anwesenheit - allein, zu zweit, zu dritt oder eine ganze Tischrunde - plus einem laufenden Fernseher füllt das Café mit einem geradezu ohrenbetäubenden Spektakel. Da wird diskutiert, daß die Tischplatten zittern, Meinungen ausgetauscht und gelacht, daß die Gläser scheppern und der »café-creme« aus den Tassen schwappt; die Zeitungen gehen reihum, das Handgeschüttel und Schulterklopfen bei Neuankömmlingen ebenso. Solche Szenen ersetzen mir jedes Kino, und obwohl ich mich eher in halben Einsamkeiten, mit möglichst wenig Mensch darin, wohlfühle, können mich einzelne Trubel-Erlebnisse dieser Art ungemein begeistern, ja unter Umständen ein totales Lebensgefühl in mir erzeugen - wenn auch, wie hier, nur auf indirektem Weg.
Ziemlich direkt hingegen steuern wir schließlich unseren Jockl an und begeben uns ohne Umschweife auf die N81, die uns in zweistündiger Fahrt nach Autun bringt. Ein sehr reizvolles Stadtbild, geprägt von einer der sehenswertesten Kathedralen Frankreichs vor bewaldeten Hügeln, läßt uns eine langweilige Vorortdurchfahrt bald vergessen. Völlig überrascht, finden wir uns im Zentrum auf einem riesigem Platz wieder. Prächtige Bauten rundherum vervollständigen diese noble Großzügigkeit und lenken von der eigentlichen Altstadt gekonnt ab. Diese würde den Normal-Tourist auch nicht sonderlich anziehen, stünde nicht ausgerechnet hier die zuvor erwähnte Kathedrale Saint-Lazare. Die Gassen leer, viele Fassaden im nostalgischen Vergessenheitslook und dahinter wohl kaum jemand mehr wohnend - eine ungewöhnliche Nachbarschaft für Autuns Zugpferd. Doch auch die Kathedrale, ein Stilgemisch um einen romanischen Kern, trägt die Viren einer gewissen Verkommenheit in sich. Allerdings zeugt ein umfassendes Gerüst an der Außenwand von den Versuchen, den Zahn der Zeit zu plombieren. Wir wissen, was wir sehen wollen, und das beginnt gleich am Portal mit dem fantastischen Tympanon des Meister Gislebertus und setzt sich im Kapitelsaal im ersten Stock der Kathedrale fort, wo einige Originale der bei Restaurierungsarbeiten ausgewechselten Kapitelle des Hauptschiffes ausgestellt sind. Unglaubliche Lebendigkeit, Kraft und auch Eleganz finden sich in diesen großartigen Steinmetzschöpfungen. Die religiöse Thematik der einzelnen Darstellungen gerät dabei erst einmal völlig in den Hintergrund, so sehr fasziniert das Detail eines Gesichts, eines Ornaments oder eines floralen Motives. Meine Augen weiden sich an der Plastizität, der Tiefe und der Perfektion der Ausführung und erkennen logischerweise erst auf den zweiten oder gar erst auf den dritten Blick eine »Flucht aus Ägypten« oder was auch immer. Der Kapitelsaal eignet sich auch hervorragend zu einem Blick aus dem Fenster, welcher unverhofft im Grünen landet, da unmittelbar wenige Meter hinter der Kathedrale die Stadt Autun mehr oder weniger abrupt endet. Eine Runde durch das umliegende Häuserviertel bestätigt das Abseits von Saint-Lazare zum übrigen Stadtgeschehen. Auch die schwindelerregende 77-Meter-Höhe des Vierungsturmes ändert daran nichts.
Beim Rückweg verzichten wir auf einen Besuch im Musée Rolin - Besseres als die eben bewunderten Kapitelle kann uns heute kaum mehr geboten werden. Ansonsten widmen wir uns eingehend den Shopping-Gassen in der Fußgängerzone und einer Suche nach wasserdichten
Weitere Kostenlose Bücher