Mit Jockl nach Santiago
Wie bei unserem ersten Santiago-Besuch quartieren wir uns für einen mehrtägigen Aufenthalt auf dem Campingplatz »As Cancelas« im Norden der Stadt ein. Und wie damals gehen wir die zweieinhalb Kilometer zu Fuß in die Innenstadt; zu dieser Tageszeit, wider besseres Wissen, eine sehr unvernünftige Aktion, da der Weg ausschließlich in praller Sonne verläuft und wir auf dem glühendheißen Asphalt fast verdampfen. Doch in anbetracht des morgigen Sonntags müssen wir heute noch unaufschiebbare Besorgungen tätigen. Fürs Sightseeing bleiben uns ohnedies noch ganze drei Tage.
Mit Ausschlafen wird’s wohl heute und auch die nächsten Tage nichts, dafür herrscht zuviel Unruhe am Camp, besonders vor unserem Zelt, wo sich die Schaulustigen ein Stelldichein geben, sich um den Jockl scharen und dort ausharren, als würden sie auf ein jakobäisches Wunder warten oder ihn als ein solches bereits betrachten. Zugegeben, zwischen den Reihen heller Wohnmobile und Wohnwägen nimmt sich Jockl in einer Anzahl gleichartiger Produkte wie ein Fließbandfehler aus. Und trotzdem stiehlt er allen die Schau und in weiterer Folge uns ein gemütliches, ungestörtes Camperdasein. Entweder wir leiern wie auf Knopfdruck auf immer gleiche Fragen immer gleiche Antworten runter, wie diverse Info-Tonbänder in Kirchen - leider verfügen wir über keinen Geldeinwurf-, oder wir verbunkern uns im Zelt und spielen mit den ansteigenden Temperaturen Strip-Poker bis uns ein gnädiger Hitzekollaps vom Bewußtsein erlöst. Nachdem wir Variante eins schon den halben Tag praktiziert haben und wir auf Variante zwei wegen des gesundheitsgefährdenden Ausgangs verzichten, bleibt nur die Flucht in die City oder sonstwohin. Santiago und Umgebung bieten genügend Abwechslung, um den Ansprüchen an Freizeitbetätigungen, Kunst und Kultur gerecht zu werden. Folglich mischen wir uns für die kommenden Tage ins Menschengewusel der Pilgerhochburg und lassen uns nach Lust und Laune treiben. Dabei bildet die Kathedrale das Zentrum unserer Streifzüge; zu ihr kehren wir auch immer wieder zurück und treffen uns, wenn wir getrennte Wege gehen. Ihre Imposanz erhebt sich mächtig über ganz Santiago und ihrer markanten Turmgruppe verdankt die ausufernde Stadt einen optischen Zusammenhalt und krönenden Mittelpunkt. Am Stadtrand beginnend, folgen wir der Route des traditionellen Pilgereinzuges durch die Calle de los Concheiros, die Rúa de San Pedro, die Cosas Reales, die Calle Aminas über die Plaza de Cervantes und schließlich auf der Calle Azabachería zur Kathedrale. Selbst mit wenig Vorliebe für barocken Pomp und Schnörkel beeindruckt uns ihre zweitürmige grandiose Westfassade - die schönste ihrer Zeit in ganz Spanien heißt es - eine himmelwärts strebende zu Stein gewordene Bewegung. Mit dem Begriff Fläche wird man hier kein Bauelement und kein Schmuckdetail beschreiben können. Ein Bauwerk wie die Kathedrale von Santiago verlangt in ihren außerordentlichen Dimensionen genügend Abstand zwischen sich und dem Betrachter, um in all ihrer Größe Entfaltung zu finden. Und gerade dieser wird ihr auch in meisterhafter Weise geschaffen: die großen Plazas von Obradoiro, Inmaculada, Quintana und Platerías sorgen für Freiraum und würdevolles Umfeld. Hinter der Westfassade erwartet den Besucher das romanische Glanzstück der Kathedrale, der Pórtico de la Gloria, eine in jeder Hinsicht unerreichte Bildhauerschöpfung des Meisters Mateo, der sich in Planung und Ausführung dieser drei reich gestalteten Torbögen selbst übertraf und damit einen großartigen Skulpturentraum verwirklichte. Selbst professionellste Abbildungen werden der faszinierenden Ausstrahlung seines Werks kaum gerecht. Alle bisher gelesenen Beschreibungen dieses Portals geben mir einfach zuviel Sachliches wieder: endlose Aufzählungen dargestellter Heiliger, Litaneien symbolischen Beiwerks und Erklärungen zu biblischen Themen. Sinnlos und absolut uninteressant, so etwas zu lesen, solange man dieses detaillierte und oft recht gestelzte Fachvokabular nicht an Ort und Stelle mit dem tatsächlichen Objekt in Verbindung bringen kann. Alles andere gliche dem vergeblichen Bemühen, einem Blinden die Farbe Grün erklären zu wollen. Ungeachtet der ständig nachdrängenden Menschenmassen bleiben unsere Blicke im halben Figurenkranz des Mittelbogens hängen und modellieren staunend, wenn nicht sogar ein wenig ergriffen, Meister Mateos steinernes Wunder nach.
Im krassen Gegensatz dazu steht ein
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