Mit Jockl nach Santiago
noch immer die Einmaligkeit weit zurückliegender Sommertage, und in den Ruinen werden wir zu Entdeckern vergangenen Lebens.
Zwischen kleinen Wäldern aus Edelkastanien, Eichen, Birken und Eukalyptus färbt dunkles Heidekraut die Lichtungen, und wucherndes Brombeergestrüpp säumt das schmale Sträßchen. Und dann, hinter einem bestimmten Waldstück taucht endlich das mit Spannung erwartete Castillo de Pambre wieder vor uns auf, eine der besterhaltendsten Burgen Galiciens. Die kompakte, granitene Anlage aus dem 14. Jahrhundert thront hoch über der Schlucht des Río Pambre und überrascht mit ihren vier massiven Ecktürmen und einem wuchtigen Huldigungsturm mit grünem Dach aus Gebüsch und kleinem Strauchwerk innerhalb des Zinnenkranzes. Auch diesmal bleibt das Castillo für uns verschlossen, doch wir freuen uns auch so über ein Wiedersehen mit einer unserer Traumburgen.
Wir bleiben dieser Landschaft noch einige Kilometer treu und wechseln erst in der Ortschaft Campanilla unmittelbar vor der Provinzgrenze zwischen Lugo und La Coruna wieder auf die N547. Der Abstecher nach Pambre hat uns viel Zeit gekostet, so steht die Sonne schon tief, als wir die sieben Kilometer nach Melide abspulen. Dort gönnen wir uns dann eine längere Pause. Melides buntes Stadtszenario reizt, heute wie damals, zum Bummeln, und dabei entdecken wir sie wieder: all die herrlich eintönigen Geschäftsauslagen, die mit ihren spartanischen, teilweise haarsträubenden Dekorationen mit jedem dadaistisch angehauchten Künstlertum konkurrieren können. Bestimmt vermutet niemand hinter einer Vogelkäfigauslage eine Bäckerei oder hinter einem Sammelsurium aus Haushaltsgeräten eine Schneiderei. Am sinnigsten finde ich noch die Idee eines Friseurs, mit seiner struppigen Katze, die unter einem vertrockneten Blumenstock döst, um Kunden zu werben. Mancherorts halten verstaubte Kakteen schon jahrelang die Stellung, in anderen Schaufenstern stapeln sich zu Blickfängen toter Spinnen und Fliegen die Ordner eines halben Büros. Dann - eine Auslage mit Stoffballen - doch wie einfallslos, es handelt sich tatsächlich um ein Meterwarengeschäft. Das verdirbt einem nun wirklich die ganze Spannung.
Zurück beim Jockl, sprechen uns drei Burschen an und erkundigen sich, ob uns das Zwei-Damen-Fernsehteam gefunden hätte. Heute morgen seien sie auf ihrer Suche von Refugio zu Refugio hier in Melide durchgekommen und haben nach uns gefragt. Ha, die kleine Welt am Camino, wo man sich auf Hunderten von Kilometern immer wieder mal über den Weg läuft und Einheimische wie Fremde unter der Schirmherrschaft Santiagos einen einzigen großen Familienverband bilden. Und wir fühlen uns im Moment so selbstverständlich dazugehörig, wie wir es zu Hause nicht besser sein könnten.
Gegen 20.00 Uhr starten wir unsere letzte Etappe nach Santa Maria de Arzúa. Die Hitze des Tages liegt noch wie eine Heizdecke über dem Land, und wir genießen unsere 16 Kilometer Fahrtwind in herrlicher Abendstimmung. In Arzúa nisten wir uns auf einem Miniaturcampingplatz ein und vertrollen uns anschließend auf den Hauptplatz von Arzúa zu einem unterhaltsamen Abendkonzert der städtischen Blaskapelle. Massenauflauf von jung und alt und Jahrmarktsbudenaufbau lassen heute und fürs bevorstehende Wochenende größere Festivitäten erwarten. Auf jeden Fall krachen die Böller trommelfellzerreißend, und die Kapelle schmettert bis nach Mitternacht ihr Bestes in den Sternenhimmel.
Santiago de Compostela steht praktisch vor der Tür. 36 Kilometer, die wir in zweieinhalb Stunden locker abziehen, trennen uns vom Traum abertausender Pilger. Zwei guten Dutzend davon begegnen wir am Hauptplatz von Arzúa, wo kleinere Gruppen die schattigen Tische eines Cafés ansteuern und sich abgekämpft daran niederlassen oder unentschlossen über den großen Platz zaudern, als möchten sie jedes Hinsetzen vermeiden, um nicht der Verlockung zu erliegen, den ganzen Tag die Füße hochzulagern, literweise Cola in sich reinzukippen und von der Packeisgrenze vor Spitzbergen zu träumen. Einigen davon steht die Erschöpfung einem bevorstehenden Kollaps gleich ins ausgepowerte Gesicht gezeichnet - dazu oft mit wunden Füßen, sonnenverbrannten Schultern oder Verletzungen von irgendwelchen Querfeldein-Trails. Das betrifft aber meist nur die sogenannten »Extrem-Pilger«, die den Sinn einer Pilgerschaft mit einem Iron-Man-Triathlon verwechseln. Wir treffen Leute mit 60 bis 70 Kilometer Marschleistung pro Tag, darunter
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