Mit Konfuzius zur Weltmacht
Fahrgemeinschaft ist dem Erfolgspärchen nicht bekannt. Obwohl sie am selben Ort arbeiten, fahren sie getrennt nach Hause. Während einer solchen Fahrt meint Coco: »In 20 Jahren wird Chongqing so fortgeschritten sein wie Shanghai und andere moderne Städte der Welt.« Welcher Stadt wird es am meisten ähneln? »Schwer zu sagen – wohl New York!«
Wie in New York werden es manche nach ganz oben schaffen, wogegen andere ganz unten bleiben. Der »Bangbang« Liu, der mit seiner Bambusstange Lasten trägt, spürt täglich, zu welcher Kategorie er gehört. Er muss seinem Kunden in den Bus folgen und schleppt dessen Taschen zum Hauptbahnhof. Für die fast einstündige Schwerstarbeit erhält Liu umgerechnet etwa zwei Euro. Auch Coco nutzte früher die Lastenträger. Das war, als es ihr noch nicht so gut ging wie heute. »Jetzt shoppe ich in Hongkong und Taiwan«, sagt sie. »Um teurere Sachen zu kaufen, fliege ich nach Singapur.«
Die Einkommensunterschiede werden immer größer. Auch die Architektur entspricht den Klassen dieser in der politischen Theorie zukünftig klassenlosen Gesellschaft. Lastenträger Liu lebt in der zwölften Etage eines Wohnblocks, er kriecht die Treppen hoch, einen Lift gibt es nicht. Außenwände und Flurböden sind aus kahlem Beton. In der Ferne kann er von seinem Treppenhaus aus eine gläserne Skulptur erblicken, deren Form einem Schiff gleicht, Spiegelungen erzeugen surreale Lichtreflexe: das Grand Theatre, ein Werk der Hamburger Stararchitekten von Gerkan und Marg.
Werbeunternehmerin Coco besitzt gleich mehrere Wohnungen in der Stadt. Parkplatzsuche ist ein Problem, das sie nur aus dem fernen Europa kennt. Wo sie lebt und arbeitet, kauft sie sich jeweils einen bewachten Stellplatz. Auch das Apartmenthochhaus, das sie jetzt anfährt, verfügt über eine Tiefgarage. Coco stoppt vor dem Wächterhäuschen an der Einfahrt, öffnet das Fenster und sagt: »Ich habe die Verwaltungsgebühr für diesen Monat noch nicht bezahlt.« – »Macht nichts, dann zahlen Sie halt später«, sagt die Parkwächterin, die einen gescheckten Tarnanzug trägt.
»Als ich den Parkplatz gekauft habe, war er noch billig. Er kostete umgerechnet 6000 Euro«, verrät Coco ihre Größenmaßstäbe. »Jetzt wäre er viel teurer.« Auch Apartments sind für Coco und ihren Mann vor allem eine Geldanlage. Wie sich bald herausstellen wird, wohnen sie in dem Apartment, das wir jetzt mit dem Lift ansteuern, gar nicht selbst – und sie vermieten es auch nicht.
Bei Lastenträger Liu ist es genau umgekehrt: Er wohnt mit seiner Familie zur Miete – aber nicht allein. Den zweiten Raum ihrer Zweizimmerwohnung haben sie an einen Fremden vermietet. In ihrem eigenen Raum ist der Beton genauso kahl wie das Wohnsilo von außen. Mit einer Bastwand und Handtüchern, die an einer Wäscheleine hängen, haben sie ein Bett abgetrennt. »Das ist das Schlafzimmer von meiner Frau und mir«, erklärt Liu. »Sehr einfach, nicht wahr?« Direkt daneben findet sich die gleiche Konstruktion noch einmal, dort schläft seine Tochter.
Die Lius haben ein paar Stühle und Kommoden, Herd, Kühlschrank und Küchentisch, eine Hocktoilette, wie sie in China bisher üblich war. Alles ist relativ. Ihnen geht es gut – verglichen mit den Bewohnern von Slums in Ländern, die unter ähnlichen Voraussetzungen starteten wie China. Im innerstädtischen Vergleich der Mega-Metropole sind diese Lebensbedingungen aber schon wieder schlecht. In Chongqing sind heute manche sehr reich, manche sehr arm.
Wie findet der Lastenträger das? »Das ist die Entwicklung der Gesellschaft«, antwortet er. »Wie überall: Den Gutsituierten geht es gut, den Verlorenen schlecht. Im Schnitt leben wir heute aber alle viel besser als früher.«
Coco und ihr Mann plaudern auf dem geräumigen Balkon der Wohnung, in die sie uns gerade geführt haben. Sie blicken auf die Skyline des modernen Chongqing. »Unser Gebäude ist von einem der renommiertesten Immobilienunternehmen in China errichtet worden«, sagt Coco. »Dort gegenüber ist eine der herausragenden Schulen von Chongqing. Bei den Vergleichstests erzielte sie immer die besten Ergebnisse. Und wenn man hier wohnt, zahlt man verminderte Schulgebühren.«
Es klingelt an der Tür. Die Hauptbewohnerin dieses Apartments kommt, Cocos dreijährige Tochter. Sie heißt Claire. Ausländische Namen, zusätzlich zum chinesischen, sind in China en vogue. Begleitet wird Claire von ihrer Oma, die ständig für die Kleine sorgt. Coco, so stellt sich
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