Mit Kurs auf Thule
beiden Sagas mit einer Stimme, wenn sie einerseits die zentrale Rolle der Familie von Brattahlid betonen und andererseits |79| die erfolgreiche Konzentration der Nordmänner auf die Ressourcen des neuen Landes, zunächst und vor allem Nutzholz und Pelze. Laut der »Saga von Eirik dem Roten« wollten die Ureinwohner Amerikas Tuch eintauschen, was sicher nicht dem lukrativen Milchhandel in der »Saga von den Grönländern« entspricht, doch Tuch wie auch Milchprodukte waren bewährte nordische Exportgüter, und offenbar gingen beide Autoren einfach davon aus, dass diese Fahrt so weit nach Westen im Grunde eine Handelsunternehmung war. 13
Die beiden Sagas erwähnen außer den bisher beschriebenen Nutzungen nicht, dass danach nochmals jemand Leifs Häuser bewohnt hätte. Das passt zu den archäologischen Belegen für eine vergleichsweise kurze nordische Phase von L’ Anse aux Meadows, dem einzigen Ort, an dem unstrittig nordische Häuser in Amerika nachgewiesen wurden.
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|84| 5 Wer waren die Skraelinger? – Eine Spurensuche
Rafn und Magnusen, die in den
Antiquitates Americanae
die isländische Sagaliteratur zusammenfassen (vgl. das Kapitel »Zu den Quellen« und Kapitel Eins), bezeichneten die Ureinwohner Vínlands durchgehend als »Skrælingar«. Sie beriefen sich hierbei auf einen Ausdruck, den Ari »der Gelehrte« Thorgilsson in den 1120er Jahren erstmals benutzt hatte. Dieser war davon ausgegangen, dass die Reste von Fellbooten, die Steinwerkzeuge und andere Zeichen einer früheren Anwesenheit von Menschen, die die Nordmänner in Grönland vorgefunden hatten, von »Skraelingern« wie jenen in Vínland zurückgelassen worden seien. Seit Aris Zeit wird der Name für Indianer- wie für Eskimovölker gleichermaßen verwendet.
Seit 1977 ist allerdings »Inuit« statt »Eskimo« der bevorzugte Begriff für die Nachkommen des Thule-Volkes, die gegenwärtig das ostarktische Kanada und Grönland bewohnen. Dennoch bleibt ein weiter Raum für Begriffsverwirrungen, weil Wissenschaftler nicht selten die Dorset- und Thule-Völker vor 1500 kollektiv als Eskimos bezeichnen – ein weiteres Wort ungeklärter Herkunft, das die beiden arktischen Völker von jenen Ureinwohnern Nordamerikas unterscheiden soll, die die ersten Europäer, die nach 1500 auf dem neuen Kontinent landeten, »Indianer« nannten. Die europäischen Fischer und Walfänger, die nach 1500 nach Nordostamerika kamen, trugen noch zur Begriffsverwirrung bei, weil sie bis etwa 1700 den Begriff »Eskimo« auch für Indianer verwendeten, die in der dem Thule-Territorium benachbarten Region lebten. 1
Ari hinterfragt oder erklärt seine Verwendung des Ausdrucks »Skræling« nicht, was vermuten lässt, dass er mit dem Ursprung und der Bedeutung des Wortes vertraut war und dasselbe Wissen bei seinen Landsleuten voraussetzte. |85| Andere frühe isländische Autoren kannten den Begriff offenbar auch, denn »Skræling« wird ebenso selbstverständlich in anderen mittelalterlichen Werken verwendet, die die nordische Interaktion mit den Menschen in Nordamerika beschreiben: die »Eyrbyggja Saga«, die »Saga von Eirik dem Roten« und die »Saga von den Grönländern«. Alle drei Sagas wurden erstmals im 13. Jahrhundert auf Pergament festgehalten, von Männern, die wie Ari gebildete Christen waren und die sicher noch bessere Möglichkeiten als Ari hatten, überlieferte Geschichten über das Zusammentreffen der Nordmänner mit arktischen Völkern zu hören und niederzuschreiben.
Die moderne Archäologie konnte nachweisen, dass die Ureinwohner der Arktis, die unmittelbar vor den Nordmännern im Südteil Grönlands lebten, herumstreifende Jäger der späten Dorset-Kultur gewesen sein müssen. Dieses arktische Volk lebte als einziges überhaupt in Grönland, als die nordischen Siedler die Insel erreichten. Die letzte Welle von Dorset-Eskimos war im 8. Jahrhundert von Kanada aus in die Region um Thule in Grönland eingewandert und behauptete sich im Norden bis etwa um 1300. Es ist daher durchaus möglich, dass die Nordmänner einige dieser Eskimos auf arktischen Jagden antrafen, noch bevor sie nach Nordamerika segelten. Später im 11. Jahrhundert begegneten sie auch Thule-Menschen, Angehörigen der letzten Neo-Eskimo-Kultur, die von Kanada her nach Grönland übersetzten und schließlich zu den Vorfahren der heutigen Inuit wurden. Die Thule-Menschen siedelten zunächst in Nordgrönland und verbreiteten sich dann im Laufe des 14. Jahrhunderts langsam entlang der
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