Mit Kurs auf Thule
beschreibt Tyrkir: »Der hatte eine steile Stirn, flackernde Augen und Sommersprossen im Gesicht. Er war klein von Wuchs und unansehnlich, doch höchst geübt in allerlei Kunstfertigkeiten.« Leif schätzte seinen kinnlosen Ziehvater offenbar trotz dessen »flackernder Augen« und anderer nicht gerade einnehmender Züge. Immerhin hatte er ihn auf seiner Reise in das neue Land mitgenommen und zeigte sich sehr beunruhigt, als Tyrkir eines Tages bei einem Erkundungsgang verschwand. Leif machte sich mit einem Suchtrupp auf den Weg, und bald wurde Tyrkir gefunden: Er war so aufgeregt, dass er erst einmal einen großen Redeschwall auf Deutsch losließ, bevor er ins Nordische wechselte und berichtete, er habe Weinranken und Trauben gefunden.
Die Nordmänner füllten ihr Beiboot mit Trauben und schnitten außerdem noch Reben und Holz. Als sie im nächsten Frühjahr nach Grönland zurückfuhren, hatten sie kostbare Ladung an Bord. Leif »gab dem Land einen Namen nach seiner Beschaffenheit und nannte es Weinland«.
Anschlussfahrten und erste Begegnungen mit den Ureinwohnern
Als die gute Nachricht die Heimat erreichte, war Leifs Bruder Thorvald laut der »Saga von den Grönländern« der Nächste, der nach Vínland hinübersegelte und die Häuser bezog, die Leif dort gebaut hatte. Die neuen Kundschafter ließen sich für den Winter dort nieder und »fingen sich Fische zur Mahlzeit«. Im Frühling erkundeten sie das Land vom Meer aus genauer und waren sehr angetan von dem, was sie da sahen. Einziges sichtbares Zeichen einer eingeborenen Bevölkerung war ein »hölzerner Kornschober« – ein Bauwerk, dessen landwirtschaftliche Funktion bis heute unklar ist. Im nächsten Sommer allerdings stießen Thorvald und seine Männer auf neun Angehörige eines indigenen Beothuk-Stammes, die sich unter ein paar mit Tierhaut bespannten Booten versteckten. 12 Die Nordmänner töteten acht der Ureinwohner, doch der neunte entkam und rannte vermutlich schnurstracks zu den »Erhöhungen« einer Siedlung weiter oben am Fjord, denn bald näherte sich ein Schwarm von Fellbooten den Eindringlingen. Im anschließenden Kampf wurde Thorvald Eiriksson tödlich verwundet. Seine Männer bestatteten ihn seinen Wünschen entsprechend am Fjord, bevor sie zu den anderen Teilnehmern der Expedition zurückkehrten. Dann, so die »Saga von den Grönländern«, sammelten sie Trauben und Reben, verbrachten einen weiteren Winter in Leifs Häusern und kehrten im |75| Frühling nach Brattahlid zurück, wo Leif jetzt nach Eiriks Tod das Kommando übernommen hatte.
Beide Vínland-Sagas merken an, dass der dritte Bruder, Thorstein Eiriksson, Gudrid Thorbjarnardóttir geheiratet habe, doch nur die »Saga von den Grönländern« berichtet, dass Thorstein in Begleitung seiner Frau einen vergeblichen Versuch unternahm, Vínland zu erreichen und Thorvalds Leichnam zurückzubringen. Beide Sagas stimmen darin überein, dass Thorstein bald darauf in der Westsiedlung starb, und die »Saga von den Grönländern« erzählt, dass seine junge Witwe, »ein stattliches und kluges Weib«, dann in die Ostsiedlung zurückkehrte, um bei ihrem Schwager Leif zu leben. Dort fand sie schon bald Gefallen an dem zu Besuch weilenden isländischen Kaufmann Thorfinn Karlsefni, der »ein schwerreicher Mann« war. Er war nach Brattahlid gekommen, um Handel zu treiben, und eingeladen worden, den Winter bei Leif zu verbringen. So hatte er reichlich Gelegenheit, Gudrids Qualitäten schätzen zu lernen. Sie heirateten noch im selben Winter.
Über die nachfolgenden Ereignisse gehen die Berichte dann auseinander. Unter den nordischen Grönländern wurde wohl noch immer viel über Vínland geredet, das neues, fruchtbares Land versprach, und auf Drängen seiner Braut und vieler anderer beschloss Karlsefni schließlich, selbst die Überfahrt zu wagen und die Chancen und Möglichkeiten einer dauerhaften Siedlung dort zu prüfen. Laut »Saga von den Grönländern« begleiteten ihn nicht nur sechzig Männer und fünf Frauen, darunter auch Gudrid, sondern auch verschiedene Haustiere. Sicher erreichten sie Leifs Häuser. Menschen wie Tiere fanden reichlich Nahrung, und man verbrachte einen geschäftigen Winter ohne Zwischenfälle in der Siedlung. Im nächsten Sommer jedoch tauchte plötzlich eine große Horde Ureinwohner auf. Als sie den Stier der Nordmänner brüllen hörten, bekamen sie einen solchen Schrecken, dass sie versuchten, in die Häuser der Nordmänner einzudringen, was man natürlich nicht
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