Mit Kurs auf Thule
mehrerer isländischer Häuptlinge als Geiseln genommen und isländischen Seefahrern den Zugang zu norwegischen Häfen verweigert hatte, kam Thorgeir zu dem Schluss, dass alle Isländer fortan den christlichen Glauben annehmen und sich taufen lassen sollten. Als Zeichen seiner Entscheidung warf er seine heidnischen Kultgeräte in einen Wasserfall in Nordisland, der seitdem den Namen Gó∂afoss – Wasserfall des heidnischen Priesters – trägt. Etwa tausend Jahre später saßen mein Ehemann und ich an diesem Wasserfall, während mehrere junge isländische Paare dort Halt machten und lange schweigend in das schäumende Wasser schauten. Im Licht des späten Nachmittags vermischten sich die Tröpfchen des Wasserfalls mit einem leichten Regen und ließen die Luft schimmern, und durch die Stille und Einsamkeit des Ortes war es so, als sei Norwegen so weit weg wie der Mond. Thorgeir hatte das offenbar anders gesehen.
|150| Adams Wahrnehmung des isländischen Lebensstils im 11. Jahrhundert könnte sich zumindest teilweise auf Berichte des Isländers Isleif Gissursson (1006–1080) stützen, der schon als kleiner Junge zur Erziehung nach Westfalen geschickt worden war und in den 1020er Jahren als Priester nach Island zurückkehrte. 1056 wurde er der erste einheimische Bischof Islands und war als solcher dem Erzbistum Hamburg-Bremen unterstellt. Isleif hatte seine europäische Ausbildung und seinen anschließenden Werdegang der Tatsache zu verdanken, dass er der jüngste Sohn des Häuptlings Gissur des Weißen von Skálholt war. Als König Olafs Freund und wohlhabender isländischer Bauer hatte Gissur zusammen mit seinem Gefährten Christian Hjallti Skjeggjason eine wichtige Rolle bei der offiziellen Bekehrung Islands gespielt. Glücklicherweise hatte Isleif offenbar nicht nur den Reichtum und die Entschlossenheit, sondern auch die persönlichen Fähigkeiten seines Vaters geerbt. 5
Bischof Isleifs Sohn Gissur studierte ebenfalls im Ausland, in Sachsen, und folgte seinem Vater später als Bischof nach. Als er 1082 nach seiner Weihe in Magdeburg nach Hause zurückkehrte, stiftete er den Hof seiner Familie in Skálholt als dauerhafte Residenz des Bistums Skálholt und gründete eine Schule an diesem Bischofssitz. Einer seiner Schüler, Jón Ögmundsson, wurde 1106 der erste Bischof von Hólar im Norden, wo bald auch ein zweites Bildungszentrum in Island entstand. Jón hatte unter anderem auch Frankreich bereist – der leitende Priester seiner Domschule in Hólar soll sogar »Franzose« gewesen sein.
Trotz der beachtlichen Entfernung von den europäischen Zentren war die isländische Kultur insgesamt im 11. und 12. Jahrhundert von einem enormen Bildungshunger geprägt. Bischof Jóns Verwandter Sæmundr Sigfússon (der so gelehrt war, dass Ari Thorgilsson ihm sein
Íslendingabók
zur Korrektur schickte) studierte in Frankreich und gründete später eine Schule in Oddi, an der auch der berühmte Historiker und Politiker Snorri Sturluson lernte. Mit nicht weniger als drei Schulen in Island am Ende des 11. Jahrhundert stieg der Alphabetisierungsgrad der wohlhabenden Isländer bald beträchtlich. Von diesen Bildungsangeboten profitierte auch der Priester Ingimund Thorgeirsson, der 1189 an Grönlands Ostküste Schiffbruch erlitt (Kapitel Sechs) und Wachstäfelchen hinterließ, auf denen er die Leidensgeschichte der Besatzung festgehalten hatte. 6
Ingimund war ein enger Freund der norwegischen Erzbischöfe gewesen, doch ansonsten stand es mit den Beziehungen zwischen dem Erzbischof und hochrangigen isländischen Geistlichen nicht immer zum Besten. Ein Beispiel ist Erzbischof Sigurds barsche Reaktion auf die Klage des frischgebackenen Bischofs Bótolf von Hólar, dem die äußeren Insignien seines Ranges fehlten; ein |151| anderes ist das Schicksal des vorhergehenden Bischofs in Hólar, Gudmund Arason, das zeigte, dass ein ortsansässiger Bischof mehr brauchte als äußere Rangabzeichen, um sich auf die Demut der lokalen Bauern verlassen zu können (Kapitel Sechs). Bedeutsamer ist hier die Tatsache, dass Bischof Gudmund schließlich Zuflucht bei Snorri Sturluson suchte, was zeigt, dass die Schwierigkeiten des Bischofs nicht von liturgischen Auseinandersetzungen herrührten, sondern von politischen. Gleiches galt für die beiden Bischöfe, die der Erzbischof schickte, nachdem er die Kandidaten der Isländer verworfen hatte. Als Sigvard von Skálholt und Bótolf von Hólar ihr Amt in Island antraten, war das Land durch lokale
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