Mit Nackten Haenden
ganzen Tage offen gelassen hatte, und zog die Vorhänge zu.
Er knöpfte sein Hemd auf und zog es aus, erst ein Ärmel, dann den anderen. Dann schleuderte er die Schuhe von sich, öffnete die Jeans. Ich wollte gerade protestieren,
als er sich auch schon neben mich hingelegt hatte.
Er drückte mich an sich. Ich wagte nicht einmal, mich zu rühren. So lagen wir da, ohne zu sprechen. Er war straff und frisch, ich war klamm und verschwitzt. Ich dachte an das Glück, das ich empfunden hatte, wenn ich ihn als Kind im Arm hielt. An diese grenzenlose Sanftheit, die mich überkam, wenn er an meiner Brust eingenickt war. Dann hörten wir, immer noch schweigend, allmählich auf zu zittern und schliefen ein. Eine seltsame Nacht, in deren Verlauf ich mehrmals aufschreckte, um gleich wieder wegzudämmern. Eine zärtliche Nacht, in deren Verlauf er mich selbst im Schlaf kein einziges Mal losließ. Wann hatte ich das letzte Mal bei jemandem gelegen, den ich liebte?
Dieses Mal war er mit dem Einverständnis seiner Eltern, das er ihnen nach zähen Verhandlungen abgerungen hatte, zu mir gereist. Trotzdem hatte er geschummelt, denn ich wurde nicht gefragt. Das alles sollte ich aber erst später erfahren. Sicher, nur ein bisschen später, doch da war es schon ein bisschen zu spät.
I ch möchte so gern ein Foto wiederfinden, das aufgenommen wurde, als ich fünfundzwanzig war. Nicht eben das, was man ein vorteilhaftes Foto nennen würde, das allzu grelle Licht eines windigen Tags am Meer betont noch die bemühte Beherrschtheit dieser jungen Frau, die in Shorts und Bikinioberteil dasteht, die Arme wie Flügel seitlich angelegt, braun gebrannte Oberschenkel, aufgeschürfte Knie, Turnschuhe an den Füßen. Zwei Baumwolldreiecke als Schutzschild, mehr nicht.
Mir ist so, als müsste ich nur dieses Foto wieder ansehen, um zu wissen, wer ich war, in welche Richtung ich mich entwickelte. Ich würde begreifen, warum ich bestimmte Entscheidungen getroffen habe, was mich so sehr verletzt hat und warum ich mich für stark hielt. Warum ich jede Hilfe ablehnte. Wenn ich dieses Bild wieder zu sehen bekäme, mein Gesicht von damals betrachten könnte, würde ich mich vielleicht mit der jungen Frau versöhnen. Ich würde mir endlich verzeihen, dass ich sie nicht trösten, ihr Herz nicht flicken konnte, wie man eine Stoffpuppe wieder zusammennäht, ich
würde ihr verraten, was ich seither gelernt habe. Dass die Trostmacht der Eltern, die unbeschränkt ist, solange man klein ist, gerade dann abklingt, wenn man sie am meisten braucht. Dass die Kindheit an einem einzigen Tag endet. Und auch, dass man den Griff nicht lockern sollte, wenn man jemanden hält.
Fünfundzwanzig, und ich war schon eine der ältesten unseres Uni-Jahrgangs. Gerade erst hatte ich den Titel für meine Doktorarbeit gefunden: »Sterbehilfe in der tierärztlichen Praxis: Handhabung bei Haustieren und bei Nutztieren«. Ich nahm es meinen Kommilitonen, reichen Muttersöhnchen, übel, dass sie während ihres Studiums niemals hatten jobben müssen. Ich hingegen konnte erst im dritten Anlauf an der Zulassungsprüfung für die Nationale Veterinärmedizinische Hochschule teilnehmen. Zuvor hatte mir das nötige Geld gefehlt, trotz der Unterstützung meiner Eltern. Für Papa, der sich als stolzer Maschinist jeden Morgen in aller Früh zum Bahnhof aufmachte, war das eine Ehrensache; ich wusste, dass meine Pläne für ihn, der insgeheim unter Mamas Entscheidung litt, auf eine mögliche Karriere als Konzertpianistin zu verzichten, um nur noch zu Hause Klavierstunden zu geben, vor allem eine Art Revanche darstellten. Ein merkwürdiges Gespann gaben die beiden ab, mein Vater, der auf seine einfache Herkunft stolz war, und meine Mutter, die aus altem, aber verarmtem Adel stammte. So gegensätzlich sie zu Beginn waren, hatten sie sich schließlich über eine Form von Anarchie angenähert, die sie Toleranz nannten, die im Grunde genommen
aber nur Gleichgültigkeit für eine Gesellschaft war, die sie missbilligten. Ihr Alltag, der im Wesentlichen aus zärtlichen kleinen Gesten, wechselseitiger Aufmerksamkeit und einvernehmlichen Blicken bestand, war das, was ihnen am besten glückte, aber die Liebe, die ich ihnen entgegenbrachte, reichte nicht aus, um sie als Vorbilder anzusehen. Mamas Strenge, ihre Unnachgiebigkeit selbst beim geringfügigsten Fehler, die liebende, allzu große Nachsicht von Papa, beider Fürsorglichkeit - »Du isst nicht genug, du bist ja klapperdürr«; »Du bist nicht warm
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