Mit offenen Karten
zuvor vermutet. Er hatte das Gespräch auf einen berühmten Prozess gebracht, und ich sah, wie seine Augen mich fixierten. Es war eine Art unheimliches Wissen in ihnen. Aber dann, an jenem Abend, war ich meiner Sache sicher.»
«Und Sie waren auch seiner künftigen Absichten sicher?»
«Es war höchst unwahrscheinlich, dass die Anwesenheit von Superintendent Battle und Ihre Anwesenheit ein Zufall waren. Ich nahm an, Shaitana wolle mit seiner Klugheit posieren und Ihnen beiden beweisen, dass er etwas entdeckt habe, das niemand anderer geahnt hatte.»
«Wie bald entschlossen Sie sich zu handeln, Madame?»
Mrs Lorrimer zögerte mit der Antwort.
«Es ist schwer, mich genau zu erinnern, wann mir der Gedanke kam», gestand sie. «Ich hatte den Dolch bemerkt, ehe wir zu Tisch gingen. Als wir in den Salon zurückkehrten, nahm ich ihn und ließ ihn in meinen Ärmel gleiten. Ich vergewisserte mich, dass niemand es sah.»
«Ich bezweifle nicht, dass es geschickt gemacht wurde.»
«Dann entwarf ich einen genauen Plan. Ich musste ihn nur noch ausführen. Es war vielleicht riskant, aber ich hielt es für der Mühe wert.»
«Da zeigt sich Ihre Kaltblütigkeit und Ihr richtiges Abwägen der Chancen.»
«Wir begannen, Bridge zu spielen.» Ihre Stimme war kühl und unbewegt. «Endlich ergab sich eine Gelegenheit. Ich war Strohmann. Ich durchquerte langsam das Zimmer und trat zum Kamin. Shaitana war eingenickt. Ich sah zu den anderen hinüber. Sie waren alle in ihr Spiel vertieft. Ich beugte mich vor und – und tat es…»
Ihre Stimme bebte ein wenig, wurde aber sofort wieder kühl und distanziert.
«Ich sprach zu ihm. Mir fiel ein, dass das eine Art Alibi für mich bedeuten könnte. Ich machte eine Bemerkung über das Feuer, dann tat ich, als hätte er mir geantwortet, sprach weiter und sagte ungefähr: ‹Ich bin völlig Ihrer Ansicht, ich mag auch keine Radiatoren.›»
«Und hat er überhaupt nicht aufgeschrien?»
«Nein. Ich glaube, er stöhnte ein wenig, das war alles. Man hätte es aus der Ferne für Worte halten können.»
«Und dann?»
«Und dann ging ich zum Bridgetisch zurück. Der letzte Stich wurde eben ausgespielt.»
«Und Sie setzten sich wieder hin und spielten weiter?»
«Ja.»
«Mit genügendem Interesse, um mir zwei Tage später alle Ansagen und alle Blätter schildern zu können?»
«Ja», sagte Mrs Lorrimer einfach.
« Epatant » , kommentierte Hercule Poirot.
Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und nickte mehrmals mit dem Kopf, dann schüttelte er ihn zur Abwechslung.
«Aber da ist noch ein Punkt, den ich nicht verstehe, Madame.»
«Ja?»
«Mir scheint ein Faktor entgangen zu sein. Sie sind eine Frau, die alles sorgfältig überlegt und abwägt. Sie beschließen aus irgendeinem Grund, ein enormes Risiko einzugehen. Sie tun es, es gelingt Ihnen, und dann, kaum zwei Wochen später, ändern Sie Ihre Meinung. Offen gesagt, Madame, das ist mir unerklärlich.»
Ein sonderbares kleines Lächeln spielte um ihre Lippen.
«Sie haben Recht, Monsieur Poirot, es spielt ein Faktor mit, den Sie nicht kennen. Hat Ihnen Miss Meredith gesagt, wo sie mich neulich traf?»
«Ich glaube, sie sagte in der Nähe von Mrs Olivers Wohnung.»
«Ich denke, das stimmt. Aber ich meine den Namen der Straße. Anne Meredith begegnete mir in der Harley Street.»
«Ah», er sah sie aufmerksam an, «ich beginne zu verstehen.»
«Ich dachte mir, dass Sie es verstehen würden. Ich habe einen Spezialisten konsultiert. Er eröffnete mir, was ich bereits halb vermutet hatte.»
Ihr Lächeln wurde deutlicher. Es war plötzlich warm und innig.
«Ich werde nicht mehr viel Bridge spielen, Monsieur Poirot. Oh, er hat es mir nicht so direkt gesagt. Er hat die Pille ein wenig verzuckert. Bei sorgfältiger Pflege usw. usw. könnte ich noch einige Jahre leben. Aber ich werde mich nicht sorgfältig pflegen. Das ist nicht meine Art.»
«Ja, ja. Ich beginne zu verstehen.»
«Das machte einen Unterschied, wissen Sie. Einen, vielleicht zwei Monate – mehr nicht. Und dann, gerade als ich den Arzt verlassen hatte, begegnete ich Miss Meredith. Ich bat sie, mit mir Tee zu trinken.»
Sie machte eine kleine Pause und fuhr fort:
«Ich bin schließlich keine völlig böse Frau. Die ganze Zeit, während wir Tee tranken, überlegte ich. Durch meine Tat an jenem Abend hatte ich nicht nur den Menschen Shaitana seines Lebens beraubt. (Das war geschehen und ließ sich nicht mehr rückgängig machen.) Ich hatte auch in verschiedenem Ausmaß das
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