Mit Pflanzen verbunden
Sonnenbrille trug. Merkwürdig, dachte ich. Dann sah ich, dass die Augenhöhlen leer waren, dass das Gesicht einer Erscheinung aus einer anderen Dimension gehörte. Ich blickte seinen Nachbarn an, einen blassen Ostasiaten, der sich plötzlich in ein weißes Phantom verwandelte. Auf einmal waren überhaupt keine Menschen mehr da. Hauchwesen mit Fratzen als Gesichter starrten herunter. Der Leser könnte meinen, dass ich vielleicht wegen nervöser Spannung dissoziierte und diese Schemen auf die Zuhörer projizierte. Aber nein, das war es nicht – kein Lampenfieber oder schizophrener Schub. Ich war einfach in einen anderen Wahrnehmungsmodus hineingerutscht. Selbstverständlich saßen die Zuhörer, die Menschen aus Fleisch und Blut, noch da, aber diese Hauchwesen hatten sich – ohne dass die Betroffenen sich dessen bewusst waren – in ihren Auren eingenistet. Es waren keine Totengeister, sie besaßen viel zu wenig Astralsubstanz. Es waren eben diese zweidimensionalen Schemen, die, wie Max Amman sagte, von den Ausdünstungen der Leichen lebten.
Ich erschrak. Wie sollte ich hier in fünf Minuten mein Referat halten? Schnell rannte ich hinaus zu meinem Auto, das hinter dem Gebäude stand, holte aus meinem „Medizinbeutel“ etwas getrockneten Beifuß, zerrieb ihn zwischen den Fingerspitzen und zog den würzigen Duft tief in die Nase ein. Das Aroma stieg aufwärts in den Kopf, seine Energie – das kann jeder spüren, der es versucht – stieg über das Stirn-Chakra (Ajna) bis ins Kronen-Chakra (Sahasrara) und öffnete diese Energiezentren, so dass ich das Gefühl hatte, ich würde von Licht durchströmt. Ich steckte mir noch zusätzlich einige Beifußrispen hinters Ohr und in die Haare und ging zurück in den Saal. Dort merkte ich, wie – dank dieser alten Schamanenpflanze – die Inspiration durch mich hindurchfloss.
Dem Studenten, der mir als Assistent zugeteilt worden war, erklärte ich, dass der Saal unbedingt ausgeräuchert werden müsse, damit diese Wesen nicht mehr störten. Ich drückte ihm eine Räuchermischung, die aus Beifuß und Wacholder bestand, in die Hand. Für ihn war das nichts Mystisches oder Esoterisches, sondern vertraut. Als Ethnologiestudent war er schon mit anderen „kulturellen Konstruktionen der Wirklichkeit“ konfrontiert worden. Zudem gehörte er zu jener jungen Generation, die irgendwann mal mit Zauberpilzen oder Ayahuasca experimentiert hatte und mit außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen vertraut war.
„Ja, ich würde es schon machen, morgen früh, ehe alles beginnt, so gegen halb sechs, aber allein traue ich mir das nicht zu. Bitte komm mit“, bat er mich.
„Ach, was“, erwiderte ich, „räuchere einfach. Es braucht keine besondere Zeremonie. Wir wollen diese Wesen einfach etwas zur Seite schieben, damit sie uns nicht weiter stören.“
Er traute sich trotzdem nicht und trommelte verschiedene Leute zusammen, darunter den Assiboin-Medizinmann Loren Lewis und dessen Frau Claudine Chief Stick. Die beiden waren nicht die typischen von Seminar zu Seminar tingelnden „Schamanen“, sondern echte Medizinleute ihres Volkes, auch waren es keine der Intellektuellen, die sich sonst auf wissenschaftlichen Kongressen tummeln. Es war das erste Mal, dass sie in Europa waren. Claudine Chief Stick gilt in ihrem Stamm als heilige Frau, man nennt sie „Alte Donnervogelfrau“ (Old Thunderbird Woman) , und Loren Lewis ist als Medizinmann ein geistiger Krieger und somit ihr Beschützer. Für die beiden war dieses Anliegen nichts Ungewöhnliches, denn auch sie hatten die Gespenster gespürt. Für Alte Donnervogelfrau war Europa überhaupt ein Ort voller unerlöster Gespenster und hungriger Geister, die sich, in ihren Worten, wie Hyänen auf alles stürzten, was ihnen seelisch-ätherische Nahrung zu versprechen schien.
Am Morgen wurde nicht nur mit Beifuß und Wacholder geräuchert. Der Medizinmann sang kräftige „Medizinlieder“, er bündelte die Astralschemen und schoss sie allesamt mit einem Geisterpfeil hinaus, weit weg ins Nirgendwo. Als ich später am Tag ins Anatomiegebäude kam, musste ich staunen. Die Astralatmosphäre war blitzeblank und glänzte richtig, als wäre ein übersinnlicher Meister Proper am Werk gewesen. Die Stimmung der Tagung war mehr als gut und die folgenden Referate wirkten inspiriert. Wir nahmen uns vor, bei künftigen Tagungen zuerst einmal mit Beifuß und Wacholder zu räuchern.
Der Beifuß galt in vielen Kulturen als Dämonenvertreiber und Wurmmittel.
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