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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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nur durch Deutungen und Interpretationen; und realer Raum einer Energie , der den Eindruck erweckt, als würden ionisierte Teilchen ihn durchqueren und erfüllen. Beide Aspekte dieses Seelenraumes erscheinen aufs Engste miteinander verquickt: Hermeneutische Deutungen erzeugen seelische Spannungszustände, und seelische Spannungen treiben hermeneutische Deutungsakte hervor. Was ihre reale Räumlichkeit angeht, hat die diffuse Gestalt der Seele ihren Bezugspunkt im Raum des Körpers, überschreitet diesen jedoch auch und geht weit über ihn hinaus, kenntlich an der möglichen seelischen Kommunikation von Menschen über weite Räume hinweg, ähnlich den »verschränkten Photonen« der Quantenphysik. Die Seele kann sich jedoch auch dermaßen in den Körper zurückziehen und geradezu in ihm verbergen, dass kein Strahlen in den Augen mehr von ihr kündet. Und auch was die Zeitlichkeit angeht, scheint die Seele nur bedingt an die Zeit des Körpers gebunden zu sein, sofern glaubwürdig ist, dass sie vor seiner Zeit wie auch danach noch weiter zu existieren vermag,in welcher Form auch immer.
    In hermeneutischer wie energetischer Hinsicht kommt der Seele die gestaltlose Gestalt einer Sphäre zu, die als Einflussbereich und Wirkungskreis in ihrer Kohärenz zu erspüren, aber nicht genauer zu benennen ist; eine Hermeneutik kommt ihr wohl näher als eine Analytik, sodass die Seelensphäre eher eine Frage subjektiver Deutung, nicht so sehr objektiver Erkenntnis ist. Sie entspricht eher der antiken, griechischen psychē , der alle philosophische Sorge galt, weniger der modernen »Psyche«, auf deren Objektivierbarkeit und wissenschaftliche Erkennbarkeit sich seit dem 19. und 20. Jahrhundert einige Anstrengungen der Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie richten. Es ist diese Sphäre, die in ihrer spezifischen Ausprägung eine Aura entfalten oder aber sie verfehlen kann. Weit über den bloßen »Lufthauch« hinaus, von dem der lateinische Begriff spricht, ist damit die »Ausstrahlung« gemeint, die einem Selbst ebenso wie einem Kunstwerk und einem Naturphänomen zukommen kann: Sie zeigt sich der sinnlichen Wahrnehmung, ist aber vor allem ein Produkt sinnhafter Deutung, dessen also, was aufgrund von Interpretation in einem Selbst und einem Phänomen zu sehen ist, und sie fällt umso auratischer aus, je umfassender die hermeneutische Fülle ist. Die Aura macht, dass das Selbst einem anderen nahe sein kann oder ihm nicht nahe kommen möchte; Sympathie erscheint als auratische Kongruenz, Antipathie als Divergenz, sodass Berührung im einen Fall als angenehm, im anderen Fall als »peinlich« empfunden wird. Eine Angst vor Nähe kann aber auch darin begründet liegen, dass die »Erscheinung einer Ferne«, als die Walter Benjamin die Aura definierte ( Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit , 1936), in der Nähe verloren geht; auch die Angst, sich selbst zu nahe zu kommen, hat hierin wohl ihren Grund.
    Die hermeneutischen und energetischen Zusammenhänge sorgen für den »Sinn«, der in der Seele weit mehr noch als im Körper und seiner Sinnlichkeit erfahren werden kann: Dieser innere Sinn ist der Reichtum innerer Zusammenhänge des Selbst, deren Fülle nach außen strahlt und Ausstrahlung bewirkt. In Erzählungen und Assoziationen kommt etwas vom Reichtum dieser Zusammenhänge zum Ausdruck; sie systematisch in Analyse und Therapie zu erschließen, ist eine Methode, den unfassbaren Reichtum der Seele fassbar zu machen. Zu einem Unbehagen des Selbst kann jedoch der Versuch führen, ihre hermeneutische und energetische Fülle allein in verbalen Äußerungen zu erschließen, die stellvertretend für das Ganze genommen werden, sowie eine Diskursivierung der Seele mit der Absicht einer Totalisierung zu betreiben. Das Selbst ahnt, dass der Sinn seiner Seele über jeden Diskurs hinausgeht und durch keine Rede zu erschöpfen ist; dass er zuweilen in einem Wort zum Vorschein kommt, in einem anderen aber sich verbirgt. Die Grundannahme, das »Unbewusste« sei als möglicher Seelenraum zuverlässig durch seine Diskursivierung freizulegen, erscheint daher problematisch; ebenso die Gewissheit, es könne, einmal freigelegt, zweifelsfrei auf allgemeine Begriffe zu bringen sein.
    Öffnungen im Körper, durch die die Seele ein- und ausströmt und sich mit anderen Seelen austauscht, sind die äußeren Sinne des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens. Durch die Augen bricht sie hervor, und in der berührenden Hand ist

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