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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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sie anwesend. In körperlicher Bewegung, auch in der Bewegung der geschriebenen, mehr noch der gesprochenen Sprache kommt sie zum Vorschein, und im inneren Körpergefühl wird sie vom Selbst empfunden. Im selben Maße aber, in dem die Sinne schwächer werden und schließlich auch der Tastsinn nicht mehr ansprechbar ist, zieht die Seele sich in den Körper zurück, verlöscht in ihm oder verlässt ihn. Das geschieht nicht erst im Tod, sondern schon beim »sozialen Tod« und teilweise beim »Rückzug des Selbst in sich«. Geht es um eine Wiederbelebung der zurückgezogenen Seele, so kommt es darauf an, ihren Rückzugsort im Körper ausfindig zu machen: Vielleicht dort, wo eine Dauerkontraktion schmerzt, ballt sie sich zusammen, um sich imquasi-punktförmigen Zustand noch zu bewahren. Zu befreien wäre sie dann, indem die in der Verkrampfung gebundene Energie wieder in Fluss gebracht wird. Dass eine seelische Verspannung in der Tat durch eine Bearbeitung des Körpers aufgelöst werden kann, ist bereits deutlich geworden: Jede Arbeit am Körper lockert die Seele, setzt ihre Energien frei und lässt sie wieder aufleben.
    Überhaupt liegt der seelischen Berührung anderer und durch andere eine körperliche Berührung zugrunde: Sie lockt die Seele des Selbst an die Grenzen des Körpers und ermuntert sie zur Überschreitung. Durch die entstehende Öffnung kann im Gegenzug die Seele des anderen eindringen – gerade das aber kann ein Grund für »Berührungsängste« sein: Denn auch eine zärtliche Berührung kann den Seelenraum so vollständig besetzen, dass dies als Enteignung empfunden wird, als Zustand der Unfreiheit, der der Freiheit widerspricht, die der Seele wesensgemäß zu sein scheint. Auch wenn Berührungsängste sich körperlich äußern, ist ihr Grund wohl eine Angst vor Berührung im Seelischen – die Angst einer Seele, sich zu öffnen, da sie sich zu verlieren fürchtet; auch die Angst, zu tief in die Seele eines anderen einzudringen, ihr dabei zu nahe zu kommen und sich in ihr zu verlieren. Vermutlich bedarf der empfindliche, empfindsame Seelenraum des Schutzes, um in der Besetzung durch andere nicht die Weite zu verlieren, die das Selbst hermeneutisch und energetisch atmen lässt. Wenn die Ängste solchermaßen begründet sind, dürfte es unmöglich sein, sie »loszuwerden«, vielmehr käme es darauf an, mit ihnen leben zu lernen und sie in einem lebbaren Maß zu halten. Grundelement der seelischen Sorge wäre die Aufmerksamkeit auf diesen Raum; darüber hinaus aber: den hermeneutischen und energetischen Ausdrucksformen der Seele namens »Gefühlen« den Raum zu geben, dessen sie bedürfen, sowie eine Arbeit der Gestaltung an der eigenen Seele zu leisten, um die schöne Seele zu realisieren, die dem Selbst als bejahenswert erscheint. Aber lässt sich die Seele wirklich gestalten?
Gestaltung der Gefühle: Sind Gefühle erziehbar?
    Traditionell werden der Seele »Gefühle« zugeschrieben, in denen sie zur Entfaltung kommt. Gefühle scheinen ihr Lebenselixier zu sein, ihre Art von »Bewegung«: In ihnen blüht sie auf, und bei ihrem Schwinden stirbt sie dahin. Aus der Gegensätzlichkeit der Gefühle bezieht das Selbst einige Spannung des Lebens, und an der Reichhaltigkeit ihrer Erscheinungsformen erweist sich ihre existenzielle Bedeutung: gleichmäßig und wankelmütig, abgründig und oberflächlich, lang anhaltend und kurzlebig, bewusst und unbewusst, vertrauensvoll und ängstlich, beruhigt und erschrocken, begeistert und erschöpft, feierlich und trivial, lustvoll und schmerzlich, wohlig und übel, versöhnt und empört, zärtlich und zornig, liebevoll und hasserfüllt, sehnsüchtig und enttäuscht, großzügig und eifersüchtig, stolz und erniedrigt, verlegen und verärgert, erhaben und erschüttert, selbstsicher und verzweifelt, freudig und traurig, euphorisch und melancholisch, geborgen und verlassen, heimelig und fremd, gelassen und gierig, schamhaft und frivol, zufrieden und unbefriedigt, leidenschaftlich und gleichgültig. Unverzichtbar sind Gefühle für ein erfülltes Leben, für ein Leben also, das die Fülle der Lebensmöglichkeiten ausschöpft – in all ihrer Polarität. Ihre Unverzichtbarkeit verlangt danach, sie zu stärken , wenn sie zu schwach ausfallen; daher das Bedürfnis nach »großen Gefühlen«, die sich an Intensität, auch an Abgründigkeit von der Oberfläche des Alltags abheben: Umso größer sollen sie sein, je kleiner sie im Alltag geworden sind. Ihr überbordender Überschwang

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