Mit sich selbst befreundet sein
Teil seinerselbst lebt. Und nicht nur Wirklichschönes, sondern auch Phantasieschönes : ein Traumbild, eine geliebte Vorstellung, eine Projektion in die Zukunft oder eine Erinnerung an vergangene Erfahrungen. Auch Abstraktschönes , das nicht zu fassen ist und dennoch mit Emphase bejaht werden kann: eine kühne Idee, ein luzider Gedanke, eine treffliche Formel, eine »schöne« mathematische Gleichung, eine metaphysische Realität. Und Negativschönes , denn auch »Negatives«, Unangenehmes, Schmerzliches, Disharmonisches, Fehlendes kann bejahenswert sein – um das Menschsein voll und ganz zu erfahren und die Polarität des Lebens auszumessen. »Unschöne« Situationen zu bewältigen kann eine bejahenswerte Erfahrung sein. Selbst die Verneinung kann bejahenswert sein, moderne Menschen wählen gelegentlich diesen Weg.
Offenkundig gibt es jedoch ein Maß des Schönen : Wird es unterschritten, droht die Erfahrung von Sinnlosigkeit, denn Schönes ist eine Quelle von Sinn ohnegleichen. Wird es überschritten, kommt es zur Erfahrung von Überdruss im Übermaß des Schönen: Das Widerstreben gegen eine Omnipräsenz und Exaltation des Schönen, auch die Überzeugung von Künstlern, nur mit einer »Brechung« könne Schönes erträglich sein, ist so erklärbar. Nur im Kontrast gegen Nichtschönes tritt Schönes hervor, nicht alles kann stets in gleicher Weise schön sein. Es scheint sogar Gründe dafür zu geben, das Schöne vorsichtig zu dosieren: um es nicht abzunutzen. Und es ist das Einzelschöne im unscheinbaren Kleinen, nicht so sehr das weithin leuchtende Schöne, das in schwierigen Situationen immens an Bedeutung gewinnt und die Brücke zum Leben schlägt. Über Einzelschönes hinaus stellt sich jedoch die grundlegende Frage: Ist das Leben als Ganzes für mich schön? Zwar lässt sich die Gegenfrage stellen, ob es denn nicht genüge, einfach nur der natürlichen »Liebe zum Leben« zu folgen. Es jedoch für »natürlich« zu halten, das Leben zu lieben, kann auch nur eine subtile Form von Nötigung sein und steht in Gefahr, diejenigen, die dem nicht Folge leisten, zu Feinden desLebens zu stempeln. Die Rede von der Liebe zum Leben ist wohlklingend, kann jedoch nichts daran ändern, dass es allein am Selbst liegt, das Leben zu bejahen. Diese Sichtweise markiert den Unterschied zwischen einer versteckt normativen »Biophilie« und einer optativ vorgehenden philosophischen Lebenskunst. In der Liebe zum Leben kommt allenfalls eine existenzielle Wahl zum Ausdruck, eine Fundamentalwahl, die häufig unbewusst, im Rahmen der Lebenskunst jedoch sehr bewusst getroffen wird: Warum leben und im Leben immer wieder einen Neuanfang wagen? Weil es schön erscheint zu leben. Wie beim Spiel, das gerne und immer wieder von neuem gespielt wird: Weil es schön erscheint zu spielen.
Wo immer die Frage des Schönen eine Rolle spielt, dort ist der Bereich des Ästhetischen , der somit über den Raum der Kunst hinaus auch existenzielle und alltägliche Lebensfragen umfassen kann. Ungleich enger begrenzt erscheint dem gegenüber der Bereich des Ethischen , markiert von der Frage der Werte, an denen Haltung und Verhalten orientiert werden können. Im Verlauf der Moderne sind die Bereiche des Ethischen und Ästhetischen strikt getrennt worden, aber der Gewinn dieser Trennung kann strittig sein, denn das Resultat war nur Spezialisierung: Spezialisierung der Ästhetik, eingegrenzt auf die Begründung von Kunst, und der Ethik, eingegrenzt auf die Begründung moralischen Handelns; irgendwelchen Bezug zum Lebensvollzug erreichten beide nur selten. Unästhetisch aber ist eine Ästhetik, die die Frage des Schönen generell und in Bezug auf das Leben außer Acht lässt. Unethisch ist eine Ethik, die nur noch für Ethik-Experten nachvollziehbar ist und somit ihren individuellen und gesellschaftlichen Sinn verfehlt: So unverzichtbar Fragen der theoretischen Begründung sind, so gewiss liegt der Sinn von Ethik nicht in stimmiger theoretischer Argumentation, sondern in einem überlegten praktischen Handeln und einer bewussten Lebensführung. Unethisch ist die alleinige Aufmerksamkeit auf Ausnahmefälle moralischer Konflikte, während Menschen mitihren »trivialen« Lebensfragen allein gelassen werden, ausgeschlossen aus dem ethischen Diskurs ohne Diskussion und Argument. Unethisch ist eine Ethik, deren Begrifflichkeit nur noch in einem Ethikseminar erlernt werden kann, und lächerlich macht sich eine Ethik, die sich in eine logische Formelsprache
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