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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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konnte.
    Sie erwies sich nicht nur als sehr gelehrig in dieser Sportart, sondern besaß ganz offensichtlich eine natürliche Begabung dafür. Und zudem hatte sie Glück mit ihrem Trainer. Er hatte sofort erkannt, daß die schlanke, langbeinige Schönheit über eine außerordentliche Ausdauer verfügte, über Zielstrebigkeit, ein hohes Konzentrationsvermögen und die Entschlossenheit, niemals aufzugeben, sondern jede noch so geringfügige Aufgabe konsequent bis zum Ende durchzuführen, ohne zu ermüden oder sich ablenken zu lassen. Er war sicher, daß die braunäugige Studentin im zweiten Semester zum Schießen wie geschaffen war. Sie besaß alle Charaktermerkmale einer geborenen Schützin. Davon überzeugte sich der Trainer gleich bei der ersten Übung des Stillstehens. Mit der Waffe wurde bei dieser Übung noch nicht gearbeitet, es wurde nicht geschossen, nur stillgestanden. In Schießposition gehen, Kommando zurück, wieder in Schießposition, und das Dutzende, Hunderte Mal, bis der Schütze es lernte, ganz automatisch in Schießposition zu gehen, bis sich jeder Muskel, jede Körperzelle die einzig richtige, speziell für ihn erarbeitete Position gemerkt hatte. Kira war eine der ganz wenigen, die bei dieser Übung keine Anzeichen von Gereiztheit zeigten, sich über nichts wunderten und nichts fragten, die nicht quengelten, weil sie sich langweilten, und so schnell wie möglich die Waffe in die Hand nehmen wollten. Sie sah das Ziel und verlangte auf dem Weg dorthin kein Vergnügen. Mehr noch, der Trainer sah, daß das monotone alltägliche Training Kira gefiel, weil es für sie die Verheißung eines entfernten Zieles in sich trug: die Erste und Beste zu sein.
    Aber der Trainer sah auch anderes. Kira war nicht ehrgeizig. Sie interessierte sich nicht für Titel und Ränge, nicht für Auszeichnungen und Preise, und der Olympiasieger Wladimir Uskow, mit dem ihr Trainer sie einmal zusammenbrachte, bemerkte völlig richtig, daß das Mädchen nicht aus Bescheidenheit so schweigsam war, sondern aus Desinteresse. Kira interessierte nur eins: Was mußte sie tun, um noch besser schießen zu können?
    Innerhalb von zwei Jahren gewann Kira Lewtschenko alle nur denkbaren Preise und Medaillen. Damals kam ihr zum ersten Mal der Gedanke in den Sinn, daß es möglich war, mit ihren Fähigkeiten Geld zu verdienen. Sehr großes Geld. Sehr viel mehr Geld als mit einem schönen Körper.
    Der Gedanke blitzte in ihr auf und erlosch sofort wieder. Es war das Jahr 1991, die Kunde von der Mafia, von Auftragskillern, von völlig unkontrolliertem Waffengebrauch und ähnlich beängstigenden Dingen wurde allmählich zur Gewohnheit und versetzte niemanden mehr in Erstaunen. Der Gedanke an eine Verdienstmöglichkeit als Scharfschützin kam Kira immer öfter. Um in Form zu bleiben, kaufte sie auf dem Markt einem langnasigen Schreckgespenst eine gebrauchte Stetschkin und einen großen Vorrat an Patronen ab und fuhr regelmäßig aus der Stadt hinaus, um zu trainieren. Natürlich besuchte sie auch weiterhin ihren Trainer, der nicht verstehen konnte, warum Kira die Mannschaft plötzlich verlassen hatte und an keinen Wettbewerben mehr teilnehmen wollte. Am Schießstand hielt sie ihre Schnelligkeit und Trefferdichte, aber nur im Wald konnte sie die Fähigkeiten an sich erproben, die von einem Scharfschützen verlangt wurden. Geduld. Ausdauer. Bewegungslosigkeit. Konzentration.
    Sie mußte lernen, mehrere Stunden in einer Position zu verharren. Und nach qualvollen Stunden des Wartens war nur ein einziger Schuß erlaubt.
    In all diesen Jahren arbeitete Kira weiterhin in der Bibliothek namens »Raritäten«, die allen bibliophilen Moskauern durch ihren großen Bestand an alten, teilweise vorrevolutionären Büchern bekannt war. Die Bibliothek nahm zwei Etagen und den Keller eines Gebäudes ein, in dem sich früher eine Bäckerei befunden hatte, eine chemische Reinigung, eine Rechtsberatung und eine Reparaturwerkstatt für Radiogeräte. Die Rechtsberatungsstelle und die Reparaturwerkstatt hatten die Zeit überdauert, während die anderen Räumlichkeiten von neuen Besitzern aufgekauft wurden, die in dem Gebäude Geschäfte und Büros eröffneten.
    Eines Tages, als Kira im Kellerraum zu tun hatte, hörte sie plötzlich irgendwelche Stimmen, so nah und deutlich, daß sie sich ungewollt nach Fremden umsah, die ins Allerheiligste der Bibliothek eingedrungen waren, bis sie begriff, daß die Stimmen aus einem anderen Teil des Gebäudes kamen. Dort baute irgendeine

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