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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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tapezieren. Dafür mußte er die Möbel in die Mitte des Zimmers rücken, sie mit einer Plastikplane abdecken und die alten Tapeten von den Wänden ablösen. Als Dmitrij versuchte, die Schrankwand wegzurücken, entdeckte er ein altes Damentäschchen aus Schlangenleder, das zwischen der Wand und dem Schrank klemmte. Seine Hände öffneten das Täschchen, bevor er dazu gekommen war, sich zu fragen, ob er das tun wollte oder nicht.
    In dem Täschchen befanden sich Papiere, eine Geburtsurkunde auf den Namen Kira Lewtschenko, ein Universitätsdiplom, eine Scheidungsurkunde, drei Aktien, die Kira offenbar unter dem Einfluß des allgemeinen Aktienfiebers probeweise oder nur zum Scherz gekauft hatte. Außerdem fand Dmitrij eine Urkunde über die Privatisierung von Kiras Wohnung und noch ein seltsames Dokument, in dem einer Soja Fjodorowna Lewtschenko bescheinigt wurde, daß sie Eigentümerin des von einem Wladimir Petrowitsch Lewtschenko belegten Grabes mit der Nr. 67 auf dem Manichinskij-Friedhof war. Platonow sah rasch die restlichen Papiere durch und fand nichts Interessantes. Er war bereits dabei, sie wieder in dem Täschchen zu verstauen, als seine professionelle Neugier doch die Oberhand gewann und ihn zwang, den Reißverschluß des Seitenfaches zu öffnen. Dort entdeckte er zwei Totenscheine. Der eine lautete auf den Namen Soja Fjodorowna Lewtschenko, gestorben 1987, der andere auf den Namen Wladimir Petrowitsch Lewtschenko, der drei Jahre vorher gestorben war.
    Mit steifen Fingern verschloß Platonow das Täschchen wieder und legte es auf eines der offenen Schrankfächer. Kiras Eltern waren also tot. Was bedeutete das? Fuhr sie an den Wochenenden in Wirklichkeit zu einem Liebhaber? Das war durchaus möglich. Oder zu irgendwelchen betagten Verwandten, die sie mit Lebensmitteln versorgte? Hatte sie ein Kind, das sie besuchte? Auch das war möglich. Aber warum die Heimlichtuerei? Wie auch immer, jedenfalls besuchte Kira Lewtschenko an den Wochenenden nicht ihre Eltern.
    In einer plötzlichen Eingebung lief Platonow ins Bad und öffnete den Spiegelschrank. Er überwand das Gefühl der Peinlichkeit, das ihn beim Anblick der weiblichen Hygiene-Utensilien erneut erfaßte, und griff nach einer großen blauen Schachtel, die sich als unerwartet schwer erwies. Er steckte seine Hand ins Innere der Schachtel und zog einen in mehrere Plastiktüten eingeschlagenen Revolver heraus. Noch bevor er begriff, was er in der Hand hielt, erkannte sein Gehör das typische Rascheln wieder, dessen Herkunft ihm immer unklar geblieben war.
    Er schälte den Revolver aus den Plastiktüten heraus, und der ihm bekannte Schießpulvergeruch stieg ihm in die Nase. Mit dem Revolver war erst vor kurzem geschossen worden.
    Die Wahrheit, die sich so lange vor ihm verborgen hatte, offenbarte sich schlagartig und schamlos, sie stellte sich demonstrativ zur Schau und verhöhnte ihn ob seiner Einfältigkeit. Lieber Gott, wie blind und naiv er gewesen war! Er hätte das alles längst sehen und begreifen müssen, alles war so offensichtlich, aber er hatte in seiner Dummheit und Eitelkeit nur daran gedacht, ob er mit Kira sofort ins Bett gehen oder es noch hinauszögern sollte.
    Er erinnerte sich daran, mit welcher Konzentration und Ausdauer Kira monotone, langweilige Kleinarbeiten erledigte. Wie sie stundenlang in einer erstarrten Pose dasaß und keinen Laut von sich gab. Wie aufrecht und diszipliniert sie vor dem Herd stand, ohne die Schultern zu bewegen oder von einem Bein auf das andere zu treten. Wie sie ohne die geringste Anstrengung auf einem Bein auf dem Wannenrand gestanden hatte, ohne die Balance zu verlieren. Wie sie ihren Kopf, wenn sie ihn wendete oder senkte, immer in ein und derselben Stellung anhielt, so, wie es ihr der Trainer beim Üben des Stillstehens beigebracht hatte. Sie hatte den Körper und die Bewegungen einer ausgebildeten Schützin, und man mußte ein absoluter Dummkopf sein, um das nicht zu bemerken.
    Sie kniff nie ein Auge zu, wenn sie auf größere Entfernung etwas erkennen wollte, sondern hielt sich statt dessen die Hand übers Auge. Platonow erinnerte sich, was er im Schießtraining gelernt hatte. Beim Stillstehen arbeitet jeder Muskel. Wenn man auch nur mit dem Auge zwinkert, ist alles aus, das Ziel verloren.
    Platonow spürte, wie ihm heiß wurde. Er erinnerte sich daran, wie Kira vor ihm zurückgewichen war, als er sie umarmen und an sich drücken wollte. Gestern, bevor sie das Haus verließ, um angeblich zu ihren Eltern zu

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