Mit verdeckten Karten
Mensch erinnert sich einfach daran, daß die Sieben die kleinere und das As die größere Karte ist, und legt ohne nachzudenken ab, aber die Maschine errechnet jedes Mal den Abstand zwischen den Karten, von der Sieben zur Zehn und weiter zum As, und erst dann macht sie den nächsten Spielschritt. Sie kann sich nicht merken, daß sieben weniger ist als zehn, sie muß diese Wahrheit jedes Mal neu entdecken. Ich berücksichtige das übrigens immer, wenn ich spiele. Die Rechendauer der Maschine läßt in etwa darauf schließen, welche Karten der Gegner hat. Wenn die Karte sehr schnell abgelegt wird, ist sie entweder die einzige von dieser Farbe im Blatt, oder es liegen zwei fast gleichwertige Karten nebeneinander, eine Sieben neben der Acht zum Beispiel oder eine Dame neben dem König. Wenn die Maschine lange nachdenkt, sind entweder sehr viele Karten im Spiel oder die Abstände zwischen den Wertigkeiten der einzelnen Karten sind sehr hoch. Wir, du und ich, müssen uns genauso verhalten wie diese Maschine. In jedem Fall, den wir bearbeiten, müssen wir die Wahrheiten neu entdecken, anstatt von Wahrscheinlichkeiten auszugehen. Natürlich beginnen wir unsere Arbeit mit der Überprüfung der wahrscheinlichsten Varianten, aber wir müssen alles im Auge behalten, auch das, was am unwahrscheinlichsten ist.«
Es war bereits zehn Uhr abends, als sie vor Nastjas Haus hielten.
»Vielleicht sollten wir unser Vorhaben auf morgen verschieben«, schlug Tschernyschew vorsichtig vor. »Es ist schon spät, ich möchte dich nicht stören.«
»Wieso denn stören?« fragte Nastja erstaunt. »Eine ganz normale Zeit. Komm, mach keine Fisimatenten!«
In der Wohnung stürzte Nastja sofort in die Küche und setzte den Wasserkessel aufs Gas. Ohne eine Tasse starken Kaffee konnte sie nicht arbeiten.
»Entschuldige, ich habe überhaupt nichts zu essen da. Ich kann dir nur ein Käsebrot anbieten. Willst du?«
»Ja, gerne. Du solltest so schnell wie möglich heiraten, Nastja. In deinem Kühlschrank sieht es aus wie bei einem eingefleischten Junggesellen.«
»Denkst du etwa, daß ich nach der Hochzeit zu kochen anfangen werde? Mach dir keine Hoffnungen, ich bin über dreißig, mich kann man nicht mehr ummodeln.«
»Und was soll dein armer Tschistjakow essen?«
»Mein armer Tschistjakow kocht für sich selbst. Und für mich dazu.«
Sie stellte den Computer an und breitete die Notizen vor sich aus, die Tschernyschew, der in allen vier Mordfällen ermittelte, mitgebracht hatte.
»Beginnen wir mit den Tatorten. Wie sind die genauen Daten?«
Auf dem Monitor erschien eine Karte des Moskauer Umlandes, Nastja markierte akkurat die Stellen, an denen die vier Leichen mit den Schußwunden im Genick gefunden wurden. Alle vier Stellen waren unterschiedlich weit vom Moskauer Stadtzentrum entfernt, bei der nächstliegenden waren es vierzig Kilometer, bei der entferntesten einhundertzehn.
»Vorläufig ist nichts zu erkennen«, sagte sie nachdenklich. »Das einzige, was auffällt, ist, daß es von allen vier Punkten aus etwa gleich weit ist zum Bezirk von Choroschewsk. Darüber sollte man nachdenken. Vielleicht wohnt der Mörder irgendwo in diesem Bezirk. Weißt du, die Menschen sind sehr stark beherrscht von ihren Gewohnheiten. Wenn jemand sich zwischen zwei, drei möglichen Wegen einmal für einen entschieden hat und ihm auf diesem Weg nichts Schlechtes widerfährt, wird er in neun von zehn Fällen die anderen Wege gar nicht mehr ausprobieren. Beim ersten Mal hat der Mörder sein Opfer in eine Entfernung von siebzig Kilometern gelockt. Nachdem er festgestellt hat, daß alles gut gelaufen ist und man ihn nicht gefaßt hat, fängt er an, siebzig Kilometer für den idealen Sicherheitsabstand zu halten. Eine kürzere Entfernung wäre zu riskant und eine größere ist nicht erforderlich. So könnte es doch sein, oder?«
»Ja, sicher«, stimmte Andrej zu. »Nur sieht es überhaupt nicht so aus, als hätte der Mörder das wirklich getan. Die Verwandten der Ermordeten haben in drei von vier Fällen gewußt, wohin diese Leute unterwegs waren und aus welchem Grund. Der Student fuhr auf die Datscha zu seinen Eltern, der Geschäftsmann war unterwegs in seine Firma, die Fernseher herstellt und sich im Bezirk von Taldomsk befindet, einer der beiden Arbeitslosen war auf dem Weg zu Freunden.«
»Und der vierte?«
»Der vierte ist das Fragezeichen. Bei ihm ist völlig unklar, warum er die Stadt verlassen hat. Leute, die ihn kannten, haben ausgesagt, sie hätten nie
Weitere Kostenlose Bücher