Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
Vom Netzwerk:
Abendstudium, und mit achtundzwanzig Jahren war sie im Besitz eines Universitätsdiploms für das Fach Bibliothekswissenschaft. Im Grunde hätte sie das Diplom für ihre Arbeit nicht gebraucht, sie hätte bis zu ihrer Rente in der Bibliothek namens »Raritäten« bleiben können, in der sie schon mit achtzehn Jahren zu arbeiten begonnen hatte, aber ihre verletzte Eigenliebe forderte ihren Tribut. Sie fand das Studium langweilig, ging aber regelmäßig zu den Vorlesungen, büffelte und schrieb Kontrollarbeiten, um Sascha und seiner Mutter zu beweisen, daß sie sich in ihr getäuscht hatten. Zwar war sie von ihrem Mann inzwischen geschieden, aber sie liebte ihn noch, und deshalb war es ihr nicht gleichgültig, was er über sie dachte. Dann verging die Liebe, aber das Studium setzte Kira trotzdem fort. Es lag nicht in ihrem Charakter, Begonnenes auf halbem Weg wieder aufzugeben.
    4
    Kira verließ die Wohnung, und Platonow bereitete sich auf eine Zeit qualvollen Wartens vor. Bis Kira am Bahnhof sein und die Unterlagen im Schließfach deponiert haben würde, würde es bereits sieben sein, dann würde sie versuchen, Kasanzew zu erreichen. Er hatte gebeten, zwischen sieben und acht anzurufen, aber er war kein Ausbund an Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, es war durchaus möglich, daß er erst um neun oder zehn nach Hause kommen würde, wenn nicht gar erst um elf. Und in dieser ganzen Zeit würde Kira wie eine streunende Katze durch die Straßen irren, von einer Telefonzelle zur nächsten, und er, Platonow, würde sich in der leeren Wohnung herumdrücken und die ganze Zeit auf das Telefon starren.
    Kira hatte ihn nicht umsonst gelobt, er hatte in der Tat gut daran getan, zwei Schließfächer mit ähnlichen Nummern zu belegen. Im Ministerium war seine Freundschaft mit Russanow für niemanden ein Geheimnis, deshalb war es nicht ausgeschlossen, daß man das Telefon seines langjährigsten und engsten Freundes angezapft hatte, in der Hoffnung, daß der Flüchtige sich bei ihm melden würde. Sergej selbst ahnte wahrscheinlich nicht einmal, daß seine Telefongespräche abgehört wurden. Das Schließfach mit der Nummer siebenundzwanzig befand sich in einem anderen Raum als das mit der Nummer einhundertsiebenundzwanzig, und wenn das Gespräch zwischen Kira und Russanow abgehört worden war, würde man Kira am Schließfach mit der Nummer siebenundzwanzig erwarten, während sie die Unterlagen in aller Ruhe zum anderen, im Nachbarraum befindlichen Schließfach würde bringen können. Es war nur eine Frage der Technik und des Einfallsreichtums, wie er Russanow die richtige Schließfachnummer zur Kenntnis brachte. Kira konnte ihm morgen am Telefon zum Beispiel sagen, er solle an fünf Mal zwanzig denken oder an drei Mal dreißig plus zehn. Da gab es viele Möglichkeiten, das war nicht das Problem.
    5
    Sie betraten die Gepäckaufbewahrungshalle des Kiewer Bahnhofs zu zweit. Sie sahen sich um, entdeckten das Schließfach mit der Nummer siebenundzwanzig und checkten ab, von wo aus man das Fach am besten im Auge behalten konnte und dabei am wenigsten auffiel. Sie suchten mehrere Stellen aus, um nicht ständig an einem Ort zu stehen und damit die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es konnte sein, daß sie sehr lange würden warten müssen, womöglich bis morgen.
    Obwohl sie nicht Brüder, sondern Cousins waren, sahen sie einander erstaunlich ähnlich. Der Ältere war knapp fünfzig, der Jüngere etwas über dreißig, und man hätte sie durchaus für Vater und Sohn halten können. Durch entsprechende Kleidung, die den Jüngeren noch etwas jünger und den Älteren noch etwas älter wirken ließ, wurde der Effekt noch verstärkt.
    Der Jüngere bezog Posten in einem der Durchgänge zwischen den Reihen der eisernen Schließfächer, der Ältere ging hinaus auf den Bahnsteig, um sich nach einem Imbißstand umzusehen, nach einer Bank, nach einer Toilette. Nach zwanzig, dreißig Minuten würde er zurückkehren und seinen Cousin ablösen, damit dieser sich die Beine vertreten konnte. Vorläufig waren noch keine besonderen Anstrengungen nötig. Am ehesten war zu erwarten, daß die Frau im Laufe des heutigen Nachmittags auftauchen würde. Zwar hatte sie angekündigt, daß sie die Unterlagen morgen im Schließfach deponieren wollte, aber aus langjähriger Erfahrung als Ermittlungsbeamte wußten die Cousins, daß nur ein Dummkopf sich an solche Ankündigungen hielt. Vorläufig konnten sie entspannt bleiben, aber ab etwa vier Uhr mußten sie sich wappnen.

Weitere Kostenlose Bücher