Mit verdeckten Karten
lustlos Lesnikows Hand drückte.
»Sozusagen«, erwiderte Lesnikow lächelnd. »Wir fahren jetzt zusammen zur Staatsanwaltschaft, zum Untersuchungsführer. Die Sache dauert nicht länger als eine Viertelstunde, dann bist du wieder frei.«
»Warum zur Staatsanwaltschaft?« fragte Stas mißtrauisch. »Können Sie mir Ihre Fragen nicht hier stellen?«
»Wovor hast du denn Angst? Du bist doch nicht der Angeklagte, sondern nur Zeuge. Komm, mach schon, laß uns gehen. Es tut doch nicht weh.«
Im Büro des Untersuchungsführers wurde Stas mitgeteilt, daß man ihm jetzt in Anwesenheit von Zeugen einige Diplomatenkoffer zeigen würde, und er sollte sagen, welcher davon dem ähnelte, den der besagte Mann in der Wolodarskij-Straße bei sich gehabt hatte. Auf dem Schreibtisch wurden sechs Diplomatenkoffer in den Farbtönen von hell- bis dunkelrot nebeneinandergestellt. Der Untersuchungsführer bat darum, die Vorhänge zu schließen, eine helle Lampe anzuknipsen und ihr Licht auf den Tisch zu richten.
»Wozu denn das?« fragte Schurygin verwundert.
»Damit du die Farbe richtig erkennen kannst«, erklärte Lesnikow. »Als du auf der Wolodarskij-Straße standest, dämmerte es bereits, und du hast den Diplomatenkoffer im Scheinwerferlicht gesehen. Stimmt’s?«
»Ja, stimmt«, bestätigte Stas.
»Bei künstlicher Beleuchtung nimmt man Farben anders wahr als bei Tageslicht.«
»Ach so, ja, ich habe verstanden.«
Stas betrachtete die Diplomatenkoffer aufmerksam und deutete zielsicher auf einen von ihnen.
»So einer war es«, sagte er mit Bestimmtheit, »er hatte genau diese Farbe und dieselben Metallbeschläge.«
Nachdem Lesnikow Schurygin und die anderen Zeugen wieder entlassen hatte, schüttelte er niedergeschlagen den Kopf. Den Diplomatenkoffer, den Stas wiedererkannt hatte, hatte man heute morgen bei Platonows Frau Valentina abgeholt. Es war genau der, den Lena Russanowa Platonow im vorigen Jahr geschenkt hatte.
3
Gegen Abend bekam Nastja einen Anruf von Andrej Tschernyschew. An seiner Stimme erkannte sie sofort, daß er sich nicht umsonst vor dem bevorstehenden Montag gefürchtet hatte.
»Wieder ein Mord?« fragte sie
»Ja, wieder«, bestätigte er. »Eine Neunmillimeter-Stetschkin, Schuß in den Hinterkopf aus einer Entfernung von etwa fünfundzwanzig Metern.«
»Und wo?«
»Ganz und gar nicht da, wo du vermutest, liebe Nastja. Ich habe bereits auf der Karte nachgesehen, die du mir ausgedruckt hast. Die ersten vier Punkte, die du eingezeichnet hast, verweisen auf den Choroschewskij-Bezirk, aber jetzt, nachdem der fünfte Punkt dazugekommen ist, hat sich das Zentrum zum Osten hin verlagert, ungefähr in Richtung Belorussischer Bahnhof, Frunsenskij- oder Swerdlowskij-Bezirk. Der Teufel soll das verstehen.«
»Und wer ist das Opfer?«
»Ein Mann aus der Gegend. Er ging gerade zum Bahnhof. Er arbeitet als Meister in einer Schuhfabrik in Moskau. Wem, um Gottes willen, konnte der im Weg sein?«
»Andrjuscha, einem Verrückten, wenn wir es mit einem solchen zu tun haben, kann jeder im Weg sein, sogar die eigene Mutter. Aber für einen Verrückten schießt er eigentlich zu gut, findest du nicht auch?«
»Ja, denselben Gedanken hatte ich auch. Was meinst du, wen sollen wir zuerst bearbeiten, die Verrückten oder die Meisterschützen?«
»Die einen und die anderen gleichzeitig.«
»Ich staune über deinen Idealismus«, sagte Andrej mit traurigem Spott in der Stimme. »Wo soll ich so viele Leute herbekommen? Soll ich sie etwa wie eine Henne mit meinem eigenen Hintern ausbrüten?«
»Hör mal, warum kommen deine Vorgesetzten eigentlich nicht auf die Idee, ein gemeinsames Ermittlerteam mit uns zu bilden? Die Morde werden zwar im Umland begangen, aber die Opfer sind doch mit Ausnahme des letzten alle Moskauer.«
»Die dort oben haben ihre eigenen Gedankengänge. Die diskutieren herum und haben Angst, etwas falsch zu machen. Ich weiß, daß die Frage schon zur Debatte stand, aber bis jetzt ist noch keine Entscheidung gefallen. Ist es etwa so, daß du mich ohne offizielle Dienstanweisung nicht mehr unterstützen wirst?«
»Aber nein, wo denkst du hin, ich werde alles machen, was nötig ist. Wir haben ja nicht nur eine dienstliche Beziehung miteinander. Ich könnte dich in Kontakt mit Boris Schaljagin bringen, er ist Kommandeur unserer Sondereinheit, früher war er Europameister im Sportschießen. Der könnte dir fürs erste bestimmt weiterhelfen. Willst du?«
»Ja, ich will. Danke, Nastjenka.«
4
Kira kam spät
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