Mit verdeckten Karten
sie auf der Datscha wirklich eine kurze Nacht gehabt, denn sie nahm vor dem Einschlafen kein Buch mehr zur Hand. Gleich nach dem Aufseufzen des Bettes unter dem Gewicht ihres Körpers hörte Platonow das Klicken, mit dem das Licht der Wandleuchte gelöscht wurde.
6
Vitalij Wassiljewitsch Sajnes breitete vor sich die Kopien der Unterlagen aus, die am Vortag in einem Schließfach des Kiewer Bahnhofs deponiert worden waren. Dieser Platonow war ganz schön gewieft. Es war ihm doch tatsächlich gelungen, sich sämtliche Akten zu beschaffen, die Lieferscheine, die Rechnungen, die Gutachten. Ein schlauer Fuchs. Aber er würde nicht mehr lange auf freiem Fuß sein. Ein Schmiergeld in Höhe von zweihundertfünfzigtausend Dollar und ein Mord an einem Kollegen – das war kein Pappenstiel. Aus dieser Geschichte würde er so leicht nicht wieder herauskommen.
Also, begann Sajnes zu resümieren, wie ist die Lage der Dinge? Platonow hält sich in der Wohnung irgendeiner Puppe auf, ihre Adresse haben wir, den Namen werden wir morgen früh wissen. Solange er sich dort versteckt hält, kann er keinen Schaden anrichten. Aus den Unterlagen, die er besitzt, geht eindeutig hervor, daß die Spur zur Firma Variant führt. Das ist schon schlechter. Variant wird verschwinden müssen, ebenso wie vorher Artex. Man muß alle Unterlagen vernichten und noch einmal von vorn anfangen. Aber dieser Mechanismus ist bekannt und gut geölt, damit wird alles klargehen.
Doch mit diesem Platonow muß etwas passieren. Der ist allzu eifrig und behindert unsere Arbeit. Und jetzt hilft ihm auch noch diese Frau, die er offenbar in die ganze Geschichte eingeweiht hat. Platonow ist ein echter Bulle, der ist zu Gemeinheiten fähig, aber nicht zu Dummheiten. Aber was ist mit seiner Schnepfe? Die ist eindeutig nicht von der Miliz. Wie die sich in der Gepäckaufbewahrungshalle verhalten hat – so etwas könnte einem Profi nicht passieren. Und danach hat sie einen ganzen Rattenschwanz hinter sich her gezogen, bis zu ihrer Wohnung, ohne es zu merken. Nein, die ist nicht von der Miliz, aber gerade deshalb ist sie um so gefährlicher. Sie kennt die Spielregeln nicht und kann jeden Moment irgendeinen Unsinn machen. Platonow und sein Gehilfe Agajew haben genau gewußt, was sie taten. Solange sie nicht alle Beweise in der Hand hatten, hatte es keinen Sinn, aktiv zu werden. Heute ist es nicht mehr wie früher, im Sozialismus, als jeder ganz einfach irgendeine Beschuldigung in die Welt setzen durfte, und dein Ruf war dahin. Heute muß erst ein Gerichtsurteil vorliegen, bis dahin giltst du als unbescholtener Bürger und kannst in aller Ruhe deine Sache weitermachen, bis hin zur Politik. Es kommt sogar vor, daß Leute in die Duma gewählt werden, gegen die ein Untersuchungsverfahren läuft. So sieht das heute aus. Solange die Bullen nicht alle Beweise in der Hand haben, bis hin zum letzten, können wir in aller Ruhe weitermachen und unser Geld außer Landes bringen, auf westliche Konten. Das wissen sowohl die Bullen als auch ihre Gegner. Aber sobald irgendein Laie sich einmischt und Staub aufwirbelt, wird das empfindliche Gleichgewicht gestört, und manchmal geht es so weit, daß man den Dummkopf beseitigen muß. Und dann beginnen natürlich die Schwierigkeiten, das heißt die Ermittlungen in einem Mordfall.
Vitalij Wassiljewitsch blätterte die Unterlagen noch einmal durch und beschloß, noch ein paar Tage zu warten. Sollte sich die Lage nicht beruhigen, würde man in der Sache mit Platonow und seiner Komplizin zu äußersten Mitteln greifen müssen.
ACHTES KAPITEL
1
Sergej Russanow verbrachte den größten Teil seiner Kindheit in der Angst davor, daß seine Eltern sich scheiden lassen würden. Die Befürchtung, daß die Familie auseinanderbrechen könnte, kam erstmals in ihm auf, als er sechs Jahre alt war. Damals ging sein Vater zum ersten Mal zu einer anderen Frau und kehrte erst nach zwei Jahren zurück. Das zweite Mal verließ er die Familie, als Sergej gerade elf war. Mal verschwand der Vater, mal kam er wieder zurück, er flehte die Mutter um Verzeihung an und schwor, daß das Geschehene sich nicht wiederholen würde, aber es wiederholte sich immer wieder. Der Vater ging und kam nach einer Weile wieder zurück . . .
Sergej liebte seine Eltern über alles und war nur glücklich, wenn er sie zusammen sah. Die Geduld seiner Mutter mit ihrem Mann hielt er für selbstverständlich, aber mit den Jahren begann er zu fürchten, daß sie ihn eines schönen Tages doch
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