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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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nicht mehr ins Haus lassen würde. Sergej selbst war bereit, seinem Vater alles zu verzeihen, wenn er ihn nur jeden Tag sehen konnte, wenn er nur bei ihm und der Mutter blieb.
    Als die Mutter schwanger wurde, erblickte der fünfzehnjährige Sergej darin ein Zeichen dafür, daß sie sich endgültig mit ihrem Mann ausgesöhnt hatte. Er war schon alt genug, um den Andeutungen und Bemerkungen zwischen den Eltern entnehmen zu können, worum es ging. Die Mutter konnte sich nicht entscheiden, ob sie eine Abtreibung machen oder das Kind behalten sollte. In die Gespräche der Eltern über dieses heikle Thema konnte Sergej sich nicht einmischen, aber er verfolgte ängstlich jedes Wort, das sie beiläufig oder im Flüsterton miteinander wechselten, und er flehte zu Gott, daß die Mutter das Kind zur Welt bringen möge. Würde sie es nicht behalten, bedeutete das, daß sie kein Vertrauen zum Vater hatte und daß sich alles wieder verändern konnte. Würde das Kind aber geboren werden, würden die Affären und Liebschaften des Vaters zwangsläufig ein Ende nehmen, und sie würden endlich für immer zusammen sein. Der Junge verstand intuitiv, daß letztlich alles vom Vater abhing, davon, ob er die Mutter überzeugen konnte, daß er sie liebte und daß sie sich von nun an auf ihn verlassen konnte.
    Als Lena geboren wurde, war Sergej außer sich vor Glück. Das Schwesterchen war für ihn Symbol und Pfand für die Stabilität der Familie, alle seine Gefühle, seine Freuden und Hoffnungen kreisten um das kleine Wesen. Er hatte schreckliche Angst davor, daß die unvermeidlichen Sorgen und Mühen, die ein kleines Kind mit sich brachte, den Vater wieder in die Flucht schlagen könnten, deshalb nahm er auf sich, was er nur konnte. Er stand nachts auf, wenn das Kind weinte, er wusch Windeln, lief täglich zur Ausgabestelle für Kindernahrung, er schwor seinen Eltern, daß die kleine Lena bei ihm genausogut aufgehoben sei wie bei ihnen selbst und drängte sie abends regelrecht aus dem Haus, damit sie Bekannte besuchten oder ins Kino gingen.
    Als er zwanzig geworden war, begriff er, daß der Ehe seiner Eltern keine Gefahr mehr drohte, obwohl das Problem für ihn inzwischen nicht mehr so aktuell war wie einst. Mit zweiundzwanzig wurde ihm klar, daß Lena ihm das Teuerste auf der Welt war. Er hatte sie praktisch aufgezogen, hatte sie gehegt und gepflegt, und es hatte einige Mühe gekostet, sie dazu zu bringen, daß sie ihn nicht mehr Papa nannte.
    Als Russanow eine Tochter geboren wurde, wollte seine Frau sie Lena nennen, aber Sergej weigerte sich. In seinem Leben gab es nur eine einzige Lena, und niemand außer ihr durfte diesen Namen tragen.
    »Du bist ja völlig verrückt mit deiner Schwester«, bemerkte Vera, Russanows Frau, unzufrieden. »Sie scheint alles auf der Welt für dich zu sein. Du hättest sie heiraten sollen und nicht mich.«
    »Jedem, der versuchen würde, ihr ein Haar zu krümmen, würde ich den Hals umdrehen«, erwiderte Sergej.
    Dasselbe hatte er auch Igor Lesnikow gesagt.
    »Lena ist das Kostbarste, was ich habe. Du kannst sie für mein erstgeborenes Kind halten. Ich würde nie jemandem erlauben, ihr weh zu tun. Wenn ich auch nur den leisesten Verdacht gehabt hätte, daß mit Dmitrij Platonow etwas nicht stimmt, hätte ich es nicht zugelassen, daß meine Schwester ihre Jugend an ihn verschwendet. Aber ich bin überzeugt davon, daß Dmitrij in Ordnung ist. Es handelt sich um irgendein katastrophales Mißverständnis, und ich möchte, daß alles zur Aufklärung dieses Mißverständnisses geschieht.«
    Lesnikow saß mit gerunzelter Stirn bei Nastja im Büro und murmelte etwas davon, daß Russanows mangelnde Objektivität gegenüber Platonow dem Team die Hände band und bei der Ermittlungsarbeit störte. Nastja machte ihre üblichen Scherze und schlug vor, den Kollegen aus dem Ministerium als Filter zu betrachten, der dafür sorgen würde, daß keine schlecht begründeten Anschuldigungen durchkamen.
    »Wenn sich heraussteilen sollte, daß Platonow schuldig ist und sich ein Rechtsanwalt der Sache annimmt, werden alle unsere Argumente sowieso auf Herz und Nieren geprüft. Es ist besser, wenn wir das selbst machen, wenn es jetzt passiert und nicht vor Gericht.«
    Am Montag morgen besprachen Nastja und Lesnikow mit Russanow und Jura Korotkow die Informationen, die Lesnikow von Schurygin erhalten hatte. Als die Rede auf den Mann mit dem bordeauxroten Diplomatenkoffer kam, trat plötzlich ein Ausdruck der Betrübnis in Russanows

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