Mit verdeckten Karten
antwortete sie sofort.
Ihm war, als hätte er ihre Stimme direkt neben seinem Ohr gehört. Wahrscheinlich stand sie direkt an der Tür und betrachtete sich im Spiegel. Probierte sie vielleicht eine neue Frisur aus? Oder betrachtete sie die ersten Fältchen, die sie seit kurzem um die Augen hatte? Oh, diese Frauen!
Endlich änderte sich die Art des Geräusches. Kira hatte sich unter die Dusche gestellt, und Platonow beruhigte sich. Er dachte an die schwindelerregend schöne, nackte Frau, die sich nur wenige Meter von ihm entfernt befand, und ahnte nicht, daß die Uhr begonnen hatte, die Zeit der letzten drei Tage zu zählen, die der Auftraggeber seines Killers ihm noch ließ.
ELFTES KAPITEL
1
In der Nacht von Samstag auf Sonntag, vom achten auf den neunten April, wachte Nastja kurz nach drei Uhr auf und konnte nicht mehr einschlafen. Sie hatte vor dem Zubettgehen eine Schlaftablette eingenommen, in der Hoffnung, daß ihr Gehirn wenigstens für sieben, acht Stunden Ruhe finden würde, aber es wurde nichts daraus. Die Schlaftablette wirkte nur bis etwa halb zwei, um viertel nach drei begann ihr Herz immer lauter gegen die Rippen zu klopfen, und die Augen öffneten sich ganz von selbst.
Nastja wußte, daß sie sehr leicht dem Mitleid verfiel. Und solange sie sich in der Gewalt dieses weichen, sentimentalen Gefühls befand, wählte sie bewußt oder unbewußt Arbeitsmethoden, die diesem Gefühl entsprachen. Wenn es aber geschah, daß Haß und Wut sie packten, wurde sie zur Amokläuferin. Sie sah nicht mehr auf die Uhr, vergaß alle Regeln des Anstands, fühlte keinen Hunger und keine Müdigkeit mehr.
Einen siebzehnjährigen Jungen umzubringen! Zwar wußte Nastja bereits, daß dieser Junge der Enkel des berühmten Trofim war und daß ihn auf der Datscha seine zweiundzwanzigjährige Geliebte erwartet hatte, aber der Ermordete war trotzdem ein Minderjähriger, fast noch ein Kind. Und selbst dann, wenn der Scharfschütze seine Opfer nicht nach dem Zufallsprinzip auswählte, wenn hinter jedem Mord ein Plan stand, ein gut bezahlter Auftrag, wenn die Ermordung des Jungen ein Akt der Vergeltung an Trofim war, wenn alle diese Morde auf das Konto der Mafia gingen, auf das Konto ihrer internen Kriege und kriminellen Auseinandersetzungen – so etwas hätte nicht geschehen dürfen. Man durfte keine Kinder umbringen.
Nastja war mitten in der Nacht mit dem Gedanken erwacht, daß sie diesen verfluchten Killer zu fassen kriegen mußte. Sie mußte es einfach. Sie mußte.
Es hatte nicht mehr viel Sinn, noch einmal einschlafen zu wollen. Nastja schlüpfte aus dem warmen Bett, wickelte sich in einen langen Morgenmantel aus Frottee ein, zog dicke Wollkniestrümpfe an und trottete in die Küche. In ein paar Minuten kochte das Wasser, Nastja brühte sich eine riesige Tasse Kaffee auf, legte ihre Beine auf den Küchenhocker, steckte sich eine Zigarette an und begann, die Ablichtung zu betrachten, die sie am Freitag von Oleg Subow bekommen hatte.
Auf die Bitte ihrer Moskauer Kollegen waren die operativen Mitarbeiter in Uralsk zu Agajews Wohnung gefahren und hatten sämtliche Malblöcke, Alben und Hefte seiner kleinen Tochter nach dem einen durchsucht, in dem ein Papierabschnitt fehlte. Doch sie hatten nichts gefunden. Mehr noch, die Überprüfung ergab, daß die Handschrift auf dem Papierabschnitt nicht von Agajew stammte. Es mußte also so sein, daß er dieses Papier von jemandem bekommen hatte. Aber von wem, wann und an welchem Ort? In Uralsk? In Moskau?
Die innere Unruhe legte sich nicht, im Gegenteil, sie wurde immer stärker, und dann, ganz plötzlich, war sie verschwunden. Statt dessen tauchten aus dem Nichts zwei polnische Namen auf. Tomaschewski und Kieslowski.
Was für ein Unsinn, dachte Nastja, und schüttelte den Kopf. Boris Viktorowitsch Tomaschewski war ein russischer Literaturwissenschaftler, ein Puschkinexperte. Krzysztof Kieslowski war ein berühmter polnischer Filmregisseur, von dem unter anderem »Ein kurzer Film über das Töten« stammte. Nastja hielt diesen Film für ein Meisterwerk, denn noch niemandem vorher war es gelungen, so offen, direkt und schmerzhaft zu zeigen, daß Gewalt nur Gewalt erzeugt und nichts anderes, und daß die einzige Möglichkeit, die schreckliche Eskalation des Todes aufzuhalten, darin besteht, zu verstehen und auf Rache zu verzichten. Vom einzelnen konnte man das nicht verlangen, der war zu schwach für eine so weise Einsicht, aber vom Staat durfte und mußte man es verlangen.
Das alles
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