Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation
richtigen Stelle. Mit dem Herausfinden der «richtigen Stelle» war ich jedoch derart beschäftigt, dass ich gar keine Energie mehr frei hatte, um herauszufinden, ob ich die Bemerkung überhaupt witzig fand. Diese Frage stellte sich mir gar nicht! Die Wahrnehmung des leisen Appelles löste gleichsam automatisch die appellgemäße Reaktion aus, ohne dass die eigene Persönlichkeit dazwischengeschaltet war. So ist es das Anliegen der Humanistischen Psychologie, uns von den eingefahrenen, klischeehaft-konventionellen Schnellreaktionen zu befreien und uns stattdessen Reaktionen zu ermöglichen, die nicht nur außengeleitet, sondern auch innengeleitet und gleichsam mit dem ganzen Gewicht der eigenen Persönlichkeit versehen sind. Dies ist für den Sender nicht unbedingt bequemer, aber vielleicht schätzt auch er es, einen Menschen und keinen Automaten vor sich zu haben. (Über einen wünschenswerten Umgangsstil mit Appellen siehe Kap. B IV, 5, S. 285ff.)
Übung
Genau wie die Übung auf S. 56, nur mit dem Unterschied, dass der Empfänger diesmal «auf der Appell-Lauer» liegt und entsprechend appellhaft reagiert. Beispiele:
Sender
Empfänger
«Haben Sie Lust zu der Übung?»
«O, wir können sie gerne überschlagen!»
«Ist noch Kaffee in der Kanne?»
«Ich koche sofort noch welchen!»
«Schönes Wetter heute!»
«Ja, wir können nach dem Kaffee gerne noch spazieren gehen.»
«Wir können ja auch den Kaffee mit auf den Spaziergang nehmen!»
(lacht herzlich)
Finale Betrachtungsweise. Einem ganz anderen Gebrauch des Appell-Ohres begegnen wir bei der finalen (auf den Zweck hin gerichteten) Betrachtungsweise. Es war schon die Arbeitsmethode Alfred Adlers, bei auffälligen Verhaltensweisen und Krankheitssymptomen die «Wozu-Frage» zu stellen: «Wozu dient dir deine Migräne? Was erreichst du damit bei deiner Umgebung?» Adler hat uns damit die Augen dafür geöffnet, dass manches Verhalten, das eine «Störung» zu offenbaren scheint (Selbstoffenbarung), eine zunächst nicht offensichtliche Appellseite hat, die eine (unbewusst gewünschte) Wirkung erzeugt. – Ein «final gespitztes Appell-Ohr» kann solche Vorgänge bewusst machen und kann den Empfänger davor schützen, manipuliert zu werden und durch appellmäßige Reaktionen unfreiwillig ein böses Spiel mitzuspielen. Dieser Gedanke wird in Kap. B IV, 3, S. 257ff. weiter ausgeführt.
Der Funktionalitätsverdacht. Wenn der Empfänger das finale Appell-Ohr extrem benützt, unterstellt er jeder Nachricht und jeder Verhaltensweise eine heimliche, «berechnende» Absicht. Jemand weint – der Empfänger interpretiert: «Jetzt drückt er auf die Tränendrüse.» – Wir haben es «Funktionalisierung» genannt, wenn die Botschaften auf der Sach-, Selbstoffenbarungs- und Beziehungsseite auf die Appellwirkung hin ausgerichtet werden. Prinzipiell steht jede Nachricht unter dem Funktionalitätsverdacht. Ich komme zu Beginn des Appell-Kapitels (s. Kap. B IV, S. 242ff.) ausführlich auf diese Problematik zurück.
3.
Die ankommende Nachricht: Ein «Machwerk» des Empfängers
Die Nachricht, so haben wir gesehen, «hat es in sich»: Eine Vielfalt von Botschaften auf allen vier Seiten steckt darin, teils explizit, teils implizit, teils absichtlich vom Sender hineingetan, teils unabsichtlich mit «hineingerutscht». Dieses ganze Paket kommt nun beim Empfänger an. Aber im Unterschied zu Paketen, die mit der Post ankommen, ist der empfangene Inhalt hier nicht gleich dem abgesendeten Inhalt. Wir haben gesehen, was der Empfänger allein schon dadurch mit der Nachricht alles machen kann, dass er seine vier Ohren in unterschiedlich starkem Maße auf Empfang schaltet.
Jetzt kommt noch hinzu, dass der Empfänger einige der Seiten der Nachricht in den «falschen Hals» kriegen kann. Wie kommt das?
Um zu kommunizieren, muss der Sender seine zu übermittelnden Gedanken, Absichten, Kenntnisse – kurz: einen Teil seines inneren Zustandes – in vernehmbare Zeichen übersetzen. Diese Übersetzungstätigkeit heißt: Kodieren. Die Zeichen sind es, die zum Empfänger «auf die Reise» geschickt werden. Was nicht mit auf die Reise gehen kann, das sind die Bedeutungen, die der Sender mit den Zeichen verbindet. Vielmehr ist ein empfangendes Gehirn notwendig, das in der Lage ist, Bedeutungen in die Zeichen neu hineinzulesen. Diese Empfangstätigkeit heißt: Dekodieren. Bei diesem Akt der Bedeutungsverleihung ist der Empfänger in starkem Maße auf sich selbst gestellt; das Ergebnis der
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