Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation
Psychologen müssen mit einigem Widerstand rechnen, wenn sie sich von dem Auftrag distanzieren, die «Pathologie des anderen» (vgl. Selvini-Palazzoli u.a. 1978) zu beheben. Eltern und Lehrer, die ein «verhaltensgestörtes» Kind dem Psychologen überweisen, sind oft gar nicht erbaut, wenn dieser die Störung gar nicht erstrangig «im» Kind, sondern im «System» suchen und behandeln will. Denn nach dieser Auffassung ist nicht der «Symptomträger» krank, sondern das interaktionelle Netzwerk der ganzen Bezugsgruppe («Patient Familie», Richter 1970).
Neben der «Bürde» enthält die interaktionistische Sichtweise aber auch eine Chance: Indem ich meinen eigenen Mitspiel-Beitrag erkenne, erhalte ich mehr Macht, bin dem «schwierigen anderen» (dem Dauerredner und Dominanten, Hilflosen und Unverschämten) nicht mehr bloß ausgeliefert, komme aus der Opfer-Rolle heraus, die mich zwar von Verantwortung entlastet und mir moralische Überlegenheit sichert, die mich dafür aber auch leiden und nicht erwachsen werden lässt.
Wie steht es mit dieser Sichtweise bei realen Abhängigkeitsbeziehungen? Bin ich nicht z.B. zwangsläufiges Opfer eines tyrannischen Vorgesetzten? Die Chancen, auf die Interaktion Einfluss zu nehmen, sind hier nicht gleich verteilt. Dennoch findet sich bei näherem Hinsehen fast regelmäßig: Wo jemand Tritte austeilt, gibt es welche, die mehr als erzwungenermaßen «Tretfläche» bieten.
2.
Interpunktion
(oder: Wer hat angefangen?)
Selbst wenn man von der individualistischen Betrachtungsweise abgekommen ist und den eigenen Beitrag zum gemeinsamen Spiel mit im Auge hat, selbst dann wird oft die Frage gestellt: «Wer hat angefangen?» Ein berühmtes Beispiel von Watzlawick (1969): Ein Ehepaar hat dauernd Streit. Die Frau nörgelt an ihrem Mann herum – wohingegen er sich zurückzieht (s. Abb. 36).
Abb. 36:
Frau und Mann interpunktieren ihre Interaktion verschieden.
Was sich hier abspielt, wird von Mann und Frau unterschiedlich interpretiert. Der Mann: «Weil sie immer nörgelt, ziehe ich mich zurück.» – Die Frau: «Weil er sich immer zurückzieht, nörgele ich!» Beide interpretieren also ihr eigenes Verhalten als Reaktion auf das Verhalten des anderen. Watzlawick spricht von unterschiedlicher Interpunktion von Ereignisfolgen. «Interpunktieren» heißt: (willkürlich) das eine Verhalten als Ursache, das andere Verhalten als Folge oder Reaktion auslegen.
Es scheint eine menschliche Eigenart zu sein, das eigene Verhalten immer als Reaktion zu erleben. Dies erklärt zu einem guten Teil den merkwürdigen Umstand, dass sich in konfliktreichen Auseinandersetzungen meist alle im Recht fühlen. – Hier ein paar weitere typische Beispiele für unterschiedliche Interpunktionen:
Eine neue Mitarbeiterin macht viele Fehler, die der Abteilung teuer zu stehen kommen. In der Abteilung herrscht Krach und Klimavergiftung. Interpunktion des Konfliktes seitens der Kollegen: «Weil sie uns nicht um Rat fragt und dann alles falsch macht, sind wir natürlich schlecht auf sie zu sprechen.» Interpunktion der neuen Mitarbeiterin: «Weil die mich alle ablehnen, wage ich nicht zu fragen, um keine abweisende Reaktion zu riskieren.»
In einer Arbeitsgruppe gibt es aktive, fleißige Gruppenmitglieder und eher passive, faule. Die aktiven: «Weil ihr so faul seid, bleibt alles an uns hängen.» Die passiven: «Weil ihr alles an euch reißt, haben wir resigniert und sagen uns: ‹Dann sollen sie ihren Kram allein machen!›»
Schlechte Atmosphäre in einer Schulklasse. Der Lehrer schimpft viel, die Schüler sind lustlos. Der Lehrer: «Weil ihr so apathisch und so wenig bei der Sache seid, muss ich viel schimpfen.» Die Schüler: «Weil er dauernd ‹rummeckert›, haben wir keine Lust mehr mitzumachen.»
Die Frage nach dem Anfang ist so unbeantwortbar wie die Frage, ob Henne oder Ei zuerst da gewesen sei. Nach der systemtheoretischen Sichtweise ist Kommunikation kreisförmig und ohne Anfang. Die Metakommunikation sollte daher nicht die Frage nach dem Anfang und nach der Schuld stellen, sondern darauf aus sein, das gemeinsame Spiel zu erkennen und Neuverabredungen zu treffen: «So und so treiben wir es miteinander, jeder reagiert auf den anderen und beeinflusst ihn dadurch. Wie können wir uns ändern, damit die Zusammenarbeit befriedigender wird?»
3.
1 + 1 = 3
(oder: Grundzüge der systemtheoretischen Betrachtungsweise – Zusammenfassung)
Grundlegend für die systemtheoretische Betrachtungsweise
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