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Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation

Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation

Titel: Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedemann Schulz von Thun
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ja nicht damit beendet, dass der eine etwas von sich gibt und beim anderen etwas ankommt. Im Gegenteil, nun geht es ja erst richtig los! Der Empfänger reagiert, wird dadurch zum Sender und umgekehrt, und beide nehmen aufeinander Einfluss. Wir sprechen von Interaktion .
    1.
    Individuelle Eigentümlichkeiten als Interaktionsresultat
    Gemäß unserer alltäglichen Sichtweise (psychologische Alltagstheorie) suchen und finden wir die Bestimmungsstücke des Verhaltens im Individuum selbst. Jemand sei hochnäsig, sagen wir, ein anderer kooperativ, Ernst sei ein Dauerredner, Waltraud sei dominant, Mimi dagegen hilflos und abhängig. Unter dem Einfluss der Psychologie sind wir damit vertraut, solche individuellen Eigentümlichkeiten als Resultat vergangener Kommunikationserfahrungen anzusehen und nicht etwa als angeboren und erbbedingt. So ist uns folgende Sichtweise nicht ungewohnt: Mimi ist so hilflos und abhängig, weil sie einen sehr autoritären Vater gehabt hat, der sie unterdrückte und nicht erwachsen werden ließ. – Die moderne Kommunikationspsychologie geht einen Schritt weiter. Sie erklärt persönliche Eigenarten als Ausdruck der derzeitigen kommunikativen Verhältnisse. Sie sagt: Es gehören immer mindestens zwei dazu, wenn sich einer in zwischenmenschlicher Hinsicht so oder so verhält. Wenn Mimi sich hilflos und abhängig gibt, dann wird sie es mit einem Partner zu tun haben, der dieses Spiel mitspielt – der sich kompetent und beschützend, vielleicht väterlich verhält. Und so gilt die Suche des Kommunikationspsychologen bei individuellen Schwierigkeiten zunächst immer auch den Mitspielern.
    Üben wir uns an Hand einiger Beispiele in diesem Wechselwirkungsdenken! Jemand ist ein Dauerredner. – Wo sind die, die ihm schweigend und geduldig zuhören? Dauerredner gibt es nur so lange, wie andere sich komplementär verhalten. – Jemand anders ist dominant: Wer sind die, die sich unterdrücken lassen? – Jemand anders ist «unverschämt»: Offenbar gibt es Mitspieler, die sich alles bieten lassen.
    Wie oft beklagen wir uns über die unangenehmen Eigenschaften unserer Mitmenschen. «Da lade ich ihn ein, und was meinst du, besitzt er doch die Unverschämtheit, seinen Hund mitzubringen! Dabei weiß er ganz genau, dass ich einen neuen Teppichboden und eine Hundehaar-Allergie habe!» – Die «Unverschämtheit» des anderen findet meist ihr Gegenstück in meiner Unfähigkeit, «nein» zu sagen und mein Interesse auszudrücken.
    Die moderne kommunikationspsychologische Sichtweise von den zwischenmenschlichen Vorgängen lautet also: Kommunikation ist ein Wechselwirkungsgeschäft mit mindestens zwei Beteiligten. Persönliche Eigenarten, individuelle Verhaltensweisen sind interaktionsbedingt. Es gehören immer (mindestens) zwei dazu.
    Diese Sichtweise ist 1. ent-individualisierend und 2. ent-moralisierend. Ent-individualisierend insofern, als zwischenmenschliche Verhaltensweisen nicht mehr in erster Linie aus den Eigenarten des Individuums erklärt werden, sondern aus den ungeschriebenen Regeln der gegenwärtigen Interaktion. Ent-moralisierend insofern: Nach der alten Sichtweise gibt es oft einen «bösen Täter» und ein «armes Opfer» («Dieser Dauerredner redet mich tot»). Da aber der Böse nur böse sein kann, wenn das arme Opfer sich zum Mitspielen bereit erklärt, ist eine moralische Beurteilung unangemessen. Es handelt sich um ein gemeinsames Spiel mit verteilten Rollen, und nicht selten hat das arme Opfer einiges Interesse daran, seine Rolle beizubehalten.
    Der bisherige Gedankengang ist in der folgenden Abbildung dargestellt:

    Abb. 35:
    Die alte (individualisierende und moralisierende) Sichtweise und die neue kommunikationspsychologisch-interaktionistische Sichtweise.
    Wo wir bisher den «schwierigen Mitmenschen» gesehen haben, sind wir nunmehr in der Lage, eine schwierige Beziehung zu sehen und nach dem Eigenanteil zu suchen:

Er ist ein Dauerredner
Warum wage ich ihn nicht zu unterbrechen?
Er ist dominant
Wie lasse ich mich unterdrücken?
Er ist so hilflos und abhängig
Wieso gehe ich ihm immer wieder auf den Leim und erledige seine Angelegenheiten?
    Für manche mag diese Sichtweise befremdlich und unbequem sein. Denn wo sie früher nur den bösen (gestörten, kranken) anderen gesehen haben, sollen sie nun die eigene Mit-«Schuld» in den Blick nehmen, genauer gesagt: den eigenen Mitspielbeitrag. Am Anfang ist dies eine zusätzliche Bürde, und kommunikationstheoretisch eingestellte

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