Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation
um der Selbstoffenbarung willen stattfinden. Paradebeispiel: die Prüfung. Des Senders Nachrichten werden hier mit dem Selbstoffenbarungs-Ohr ausgewertet: Was sagen mir deine Ausführungen über dich, deine Qualifikation, deine Kenntnisse? Der Sender hat Angst: Prüfungsangst. «Werde ich vor dem Urteil bestehen oder werde ich versagen?» Zwar sind Prüfungen, Bewerbungsgespräche, psychologische Tests usw. durch ein besonderes Schwergewicht auf der Selbstoffenbarungsseite gekennzeichnet; da aber Nachrichten auch im sonstigen Leben diese Seite beinhalten, nehmen wir ein Stück Prüfungsangst mit in alle zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese Selbstoffenbarungsangst beruht auf der Vorwegnahme einer negativen Beurteilung durch den Mitmenschen, wobei ich als Sender selbst mein nächster Mitmensch und nicht selten mein strengster Richter bin.
So trauen sich viele nicht, den Mund aufzumachen. Eine Befragung Hamburger Schüler ergab, dass über 70 % ein Problem darin sahen, sich vor anderen Leuten – Erwachsenen wie ihresgleichen – auszudrücken. Es scheint, als ob die bange Frage: «Wie stehe ich in den Augen der anderen da?» das Seelenleben übermächtig beherrscht.
Ein (Jura-)Student schreibt: «Viele Menschen haben regelrecht Angst davor, etwas nicht zu wissen, weil dieses ‹Nicht-Wissen› ja als Schwäche ausgelegt werden könnte. Daraus resultiert oft ein ‹gescheites› Daherreden ohne viel Sinn, nur um dem Verdacht zu entgehen, ein ‹Nicht-Wissender› zu sein … Auch in Kontakten zu anderen Menschen, besonders bei der Partnersuche, stelle ich oft eine ausgeprägte Angst fest, sich zu öffnen, da man ja ‹Schwächen› feststellen könnte. Nur nicht zu viel offenbaren, sonst könnte ja der andere ein schlechtes Bild von der eigenen Persönlichkeit erhalten.» (Aus einem Vorlesungstagebuch, 1980)
Besonders spürbar wird die Angst bei großer Empfängerschaft. Angenommen ich will auf einer politischen Versammlung oder einer Elternratssitzung etwas zur Sache sagen. Mein Herz klopft, bevor und während ich mich zu Wort melde. Biologisch gesehen hat Herzklopfen die Funktion, die Muskeln mit viel Blut zu versorgen, damit sie für den «Ernstfall» gerüstet sind. Diese Aufrüstung wird vom Gehirn dann befohlen, wenn es die Situation für «ernst» hält, nämlich wenn Verteidigung, Angriff oder Flucht als lebenserhaltendes Verhalten bevorsteht.
So sagt mir mein Körper sehr deutlich, was ich vielleicht mit dem Verstand für albern halte: Mein Sachbeitrag ist mir ein persönlicher «Ernstfall», eine Bedrohung meines Selbstwertgefühls. Des Senders Risiko drückt sich schon in dem überlieferten antiken Wort aus: «Si tacuisses, philosophus mansisses» («Hättest du geschwiegen, würde man dich weiterhin für weise halten»).
Halten wir fest: Der Sender weiß, dass seine Nachrichten auch unter dem Aspekt der Selbstoffenbarung empfangen und gewertet werden, deshalb ist eine Art generalisierter Prüfungsangst allgegenwärtig – ich nenne sie Selbstoffenbarungsangst.
Übrigens rührt die Angst vor dem Psychologen daher: Man rechnet damit, dass er ausgebildet ist, Nachrichten unter dem Selbstoffenbarungsaspekt auszuwerten («Was auch immer ich von mir gebe – er wird mich doch gleich durchschauen und wissen, was mit mir los ist!»).
Teilweise ist die Selbstoffenbarungsangst nicht mehr spürbar, weil wir Kommunikationstechniken erlernt haben, die die Angst mindern oder gar nicht erst aufkommen lassen. Über solche Techniken handelt Kap. 2. Zunächst wollen wir einen kurzen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Selbstoffenbarungsangst werfen.
1.1
Zur Entstehung der Selbstoffenbarungsangst
Wohl jeder hat die Selbstoffenbarungsangst schon gespürt, kennt sie aus eigenem Erleben, mehr oder minder. Woher kommt diese Angst? Ist sie angeboren? Menschliches Schicksal? Neurotisch und überflüssig?
Soweit ich sehe, liegen die Ursprünge der Selbstoffenbarungsangst bereits in früher Kindheit, sie ergibt sich als beinahe zwangsläufige Folge des Zusammenstoßes von kindlichem Individuum und Gesellschaft . Die Selbstoffenbarungsangst gehört zu den bleibenden Unfallschäden dieses Zusammenstoßes .
Zwar ist der «Zusammenstoß» unvermeidlich, jedoch ist die Härte des Aufpralles und ist die Verletzung sehr unterschiedlich, je nachdem, wie liebevoll und aufgeklärt die Erziehung und wie human die Gesellschaft gestaltet ist. Ich möchte im Folgenden zwei Teilaspekte dieses Zusammenstoßes von Individuum
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